(Noch immer) auf dem Abstellgleis
Autor: Sandra Hackenberg
Kronach, Dienstag, 11. Februar 2020
Obwohl sie unter dem Prader-Willi-Syndrom leiden, möchten die Bewohner des Flößerhofs an der Gesellschaft teilhaben.
Rohes Fleisch, Abfälle und Verdorbenes zu essen - eine Vorstellung, bei der wohl selbst bei den meisten Menschen, die unter einer Essstörung leiden, Ekel aufkommen würde. Doch das ist der Dämon, gegen den die Bewohner des Flößerhofs St. Nepomuk Sozial gGmbH in Marktrodach jeden Tag aufs Neue ankämpfen.
"Sie haben kein Sättigungsgefühl und würden ewig weiteressen - bis zur Magenruptur", beschreibt Hausleiterin Andrea Driesch den unkontrollierbaren Drang ihrer Schützlinge. Es ist das auffälligste Merkmal der Menschen mit dem sogenannten Prader-Willi-Syndrom (PWS).
Im Flößerhof St. Nepomuk leben derzeit 28 Menschen im Alter zwischen 17 und 51, die an dem seltenen Gendefekt leiden. "Gelegentlich gibt es Wechsel, aber theoretisch können die Menschen ihr Leben lang hier wohnen", erklärt Driesch. Weil die Menschen ihren Drang nach Essen praktisch nicht selbst steuern können, müssen sie ständig beaufsichtigt werden. "Diese Menschen haben einen besonderen Bedarf, den ihre Familien meist nicht decken können."
Häufig sei das mit dem Eintritt der Pubertät der Fall - eine Zeit, in der unkontrollierte Wutausbrüche der Betroffenen zunehmen. "Es kommt häufig vor, dass Lebensmittel entwendet werden", berichtet Driesch. "Darum müssen alle Nahrungsquellen weggeschlossen werden.
Hausverbot im Supermarkt
Doch selbst das hält die Betroffenen meist nicht auf. "In den meisten Supermärkten in der Umgebung haben einige unserer Bewohner inzwischen Hausverbot. Wenn sie dort nichts mehr bekommen, betteln sie auch schon mal bei den Nachbarn." Ein Bewohner beispielsweise sei sehr geschickt darin, per Anhalter von A nach B zu kommen. "Der stellt sich draußen auf die Straße, hält den Daumen raus und wurde auch schon häufig mitgenommen."
Hinzu kommt, dass PWS-Betroffene zwar liebenswert, aber auch selbstbezogen sind. "Zuerst sehen sie sich selbst und ihre Bedürfnisse", erklärt Driesch. Wenn diese nicht erfüllt oder Absprachen aus ihrer Sicht nicht eingehalten werden, können sie schon mal impulsiv oder mit unkontrollierten Wutausbrüchen reagieren. Davon zeugt auch manche Wand mit Löchern im Flößerhof, wo mal Bilder hingen. Die meisten Familien der Betroffenen sind über kurz oder lang mit Situationen wie diesen überfordert - meist mit Eintritt der Pubertät.
So war es auch bei Meltem, deren Eltern und Geschwister in Rheinland-Pfalz leben. "Hier habe ich mich eigentlich ganz gut im Griff, weil es einfach keine Versuchungen gibt", erzählt die 21-Jährige, angesprochen auf ihr Essverhalten. "Doch wenn ich zu Hause bin, ist es schwer, weil meine Geschwister viel essen - obwohl meine Mutter daheim alles weggeschlossen hat."