Leben mit Phantomschmerzen: Wo kein Schmerz sein dürfte
Autor: Anna-Lena Deuerling
Mitwitz, Freitag, 30. November 2018
Seit 1982 leidet Udo Helmreich täglich an unfassbaren Schmerzen. Eine Amputation hat sein Leben gerettet, das Phantom des verlorenen Beins bleibt präsent.
Udo Helmreich knetet seine Finger, gestikuliert, zeigt immer wieder mit der Hand auf eine Stelle vor dem Sofa. Er ringt nach den richtigen Worten, einem passenden Vergleich. Ein Brennen, als ob man im lodernden Feuer steht. Eine Zange, die sich durch die weiche Haut bis aufs Fleisch presst. "Als würde dir jemand mit einem heißen Eisen in die Verse rammen, den ganzen Körper aufreißen", versucht er seinen Schmerz zu beschreiben.
Der 58-Jährige sitzt in seinem Wohnzimmer in Mitwitz, das gesunde linke Bein fest am Boden. Wo das rechte Bein stehen sollte, ist Leere. Doch genau in diese Leere, dort, wo nichts mehr ist, nichts mehr sein dürfte, ist die Quelle für sein Leiden. Dieser Phantomschmerz begleitet ihn seit fast 36 Jahren.
Nichts zu retten
Als der Notarzt am 10. Dezember 1982 an die Unfallstelle kommt, habe er nur trocken bemerkt, was er da noch retten solle, erinnert sich Helmreich. Es ist ein freier Abend für den Maschinenführer. Gemeinsam mit seiner Frau, dem Schwager und dessen hochschwangerer Frau sitzt er kurz zuvor noch im Auto auf dem Weg zum gemeinsamen Essen. Ein dumpfer Schlag. Das ist alles, was er vom Unfall an sich noch weiß. Ein dumpfer Schlag, mehr nicht. Als sich nach dem Aufprall die anderen Insassen aus dem Auto befreien können, bleibt Helmreich im Wagen zurück. Was ihm am Aufstehen hindert, ist ein Baumstamm, der sich durch die Karosserie - durch seinen Körper hindurch - bis auf die Rückbank gerammt hatte.
Die vermeintliche hoffnungslose Rettungsaktion erlebt Helmreich bei vollem Bewusstsein. "Die nächsten Tage habe ich dann nur im Halbdelirium mitbekommen", erzählt er. Die Ärzte hätten damals nicht daran geglaubt, dass er überlebt, wirft seine Frau ein. "Und ihm dementsprechend mit Schmerzmitteln vollgepumpt." In Erlangen amputieren sie ihm das rechte Bein und Teile der Hüfte. Die Prognosen seien schlecht gewesen. "Du sitzt aber immer noch da", sagt seine Ehefrau. "Weil ich ein Phänomen bin, Ursula", sagt Helmreich und erntet einen scherzhaft strafenden Blick von ihr.
Die hohe Morphium-Dosis lässt die Zeit in der Klinik in Erlangen als verschwommene Erinnerung zurück. Knapp drei Monate verbringt er dort. Kaum ist er wach, betäubt ihn die nächste Dosis Schmerzmittel. "Je öfter meine Frau und unser Sohn zu Besuch gekommen sind, desto mehr wollte ich da wieder raus. Desto mehr hab ich wieder an das Leben geglaubt." Dass die Schmerzmittel ein lebenslanger Begleiter werden sollten, weiß er zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Auch eine Unterstellung, die er in den nächsten drei Jahrzehnten noch oft hören wird, begegnet ihm damals zum ersten Mal: "Sie fantasieren diese Schmerzen doch nur." Als er in Kronach zur Entwöhnung antritt, sei genau dieser Satz gefallen. "Ich hab denen gesagt: Der Fuß brennt mir weg, ich halte diese Schmerzen nicht aus." Doch selbst der Psychologe erkennt seinen Phantomschmerz nicht an. "Seit dieser Zeit hing ich regelrecht an der Nadel", gibt Helmreich zu. Die Morphium-Dosis immer höher, der Schmerz umso penetranter - und fast niemand glaubt an das, was er selbst kaum beschreiben kann. Denn wo es sticht, pocht, brennt - dort ist ja nichts mehr. "Das kann keiner nachempfinden. Ich spüre das Bein, ich spüre jede einzelne Zehe. Das ist alles noch gespeichert."
Neuer Antrieb
Auch wenn die Familie stark leidet, vor allem der Sohn, der den Anblick seines Vaters während der Schmerzattacken kaum ertragen kann, geht das Leben weiter. Ursula wird schwanger. Die Geburt des zweiten Sohnes ist ein Antrieb für Helmreich. Er will wieder am Leben teilhaben, versucht von den Schmerzmitteln wegzukommen, scheitert. Ablenkung hilft. "Solange ich draußen unterwegs war, beim Fußballspiel der Kinder mitgefiebert habe, konnte ich es aushalten." Doch schon Sekunden später konnte die Stimmung wechseln. Schmerzattacken suchen ihn regelmäßig heim. Wenn diese Schmerzen einschießen, vergisst er alles um sich herum.