In Gehülz eine zweite Heimat gefunden
Autor: Rainer Glissnik
Gehülz, Sonntag, 08. März 2020
Am 10. März 1945 brachte ein Zug zahlreiche Flüchtlinge nach Kronach. Unter ihnen befand sich auch Helmut Glissnik, der als damals 13-Jähriger zum Ende des Zweiten Weltkrieges sein Zuhause in Gleiwitz verlassen musste.
Es ist der 10. März 1945. Früh um 3 Uhr hält auf Gleis 3 im Kronacher Bahnhof ein Zug voller Flüchtlinge - darunter auch der damals 13-jährige und heute 88-jährige Helmut Glissnik.
Es war der 21. Januar 1945. Helmut Glissnik war im oberschlesischen Gleiwitz alleine zu Hause geblieben, weil er in der Schule nichts verpassen wollte. Seine Mutter war mit der jüngeren Schwester Edeltraud bereits zu Bekannten ins Riesengebirge geflüchtet, der Vater war drei Jahre zuvor gestorben. Wie immer am Sonntag besuchte Helmut um 11 Uhr den Kindergottesdienst. Anschließend war Mittagessen bei Onkel und Tante. "In den Gesprächen erfuhr ich, dass die Lage immer bedrohlicher wurde. Viele Militärfahrzeuge mit Soldaten sah man durch die Stadt fahren. Nachmittags ging ich ins Kino am Stadtgarten." Es lief die federleichte Schlagerkomödie "Wir machen Musik" mit Ilse Werner und Viktor de Kowa aus dem Jahr 1942.
Der Kontrast zur Wirklichkeit konnte kaum größer sein. Danach ging er ein letztes Mal zur Wohnung in der Scharnhorstraße. "Ich schlief auch noch einmal dort. Zuvor hatte ich schon von allem Abschied genommen. Bin noch einmal durch alle Zimmer gegangen, auch durch das Zimmer in dem mein Vater dreieinhalb Jahre vorher gestorben war." Es sollte die letzte Nacht dort gewesen sein. Wichtig waren ihm die wenigen Familienfotos, die er einpackte.
Eiserne Ration
Helmut ging zu seiner Tante Anna, die ein Gasthaus führte. Den gepackten Rucksack und das Köfferchen hatte er schon dort stehen. "Meine Tante packte mir ein Brot und eine Dose Schmalz in den Rucksack, was meine eiserne Ration werden sollte." So gegen 16 Uhr fuhr ein Militärlastwagen vor. Die Fahrt ging in die Keithkaserne. "In der Kaserne verbrachten wir die Nacht, an Schlaf war kaum zu denken."
Glissnik erinnert sich, dass es am 23. Januar in der Kaserne schon früh um 3 Uhr sehr hektisch war. "Der Russe war bereits im Stadtteil Petersdorf und bis zum Hauptbahnhof vorgedrungen. Wir - das waren Soldaten, Frauen und Kinder - bestiegen Kettenmannschaftswagen, die nur mit Planen abgedeckt waren." Drei Soldaten, acht Frauen und zwölf Kinder fanden Platz. Es war großes Glück, dass es noch Nacht und dunkel war. "Diesem Umstand hatten wir es zu verdanken, dass uns die russischen Panzer nicht erspähten. Unterwegs überholten wir Flüchtlinge, die mühsam auf Schlitten ihr Gepäck zogen und durch den Schnee stapften. Bei Temperaturen unter minus 20 Grad! Da wir nur sehr langsam vorbeifahren konnten, sah ich, wie Mütter ihre erfrorenen Babys am Straßenrand im Schnee begruben."
Es folgten viele Zwischenstationen über das Sudetenland. Am 13. Februar erreichte Helmut Glissnik Dresden. Die Stadt war voller Menschen auf der Flucht nach Westen. Er wollte zu Mutter und Schwester ins Riesengebirge, also in die Gegenrichtung. Um 22 Uhr sollte dieser Zug starten. Glissnik setzte sich am Bahnhof auf seinen Koffer und war wohl eingeschlafen. Gegen 21 Uhr wachte er auf, der Zug nach Görlitz stand schon bereit. "Ich stieg in den fast leeren Zug. Das frühzeitige Einsteigen in diesen Zug rettete mir das Leben." Gegen 21.45 Uhr heulten die Sirenen: Fliegeralarm.
Leuchtraketen
Der Zug setzte sich in Bewegung. Außerhalb von Dresden hielt der Zug auf freier Strecke. "Schon auf den letzten Minuten Fahrt im Zug sah ich das von vielen Leuchtraketen erhellte Dresden. Da die Stadt in einem Talkessel liegt und wir auf einer Anhöhe standen, konnte man alles mitverfolgen. Plötzlich wackelten sogar die Waggons, so schwer waren die Erschütterungen durch die Bombenabwürfe. Es war gespenstisch. Nach einer halben Stunde war alles vorbei." Die Stadt brannte an vielen Stellen, überall stieg Rauch auf. "Den 13. Februar werde ich nie in meinem Leben vergessen. Zurückblickend muss ich erkennen, dass ich viele Schutzengel hatte."