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Erinnerungen aus erster Hand


Autor: Heike Schülein

Kronach, Sonntag, 04. Oktober 2015

Am Tag der Deutschen Einheit erzählten Zeitzeugen in Kronach von den Ereignissen vor 25 Jahren. Eingeladen hatte der CSU-Ortsverband.
Friedwald Schedel brachte mit Fotos die Zeit der Grenzöffnung in Erinnerung. Foto: Heike Schülein


"Wir erinnern an die, die unter dieser Grenze gelitten haben und an die, die an ihr gestorben sind. Wir denken an die, die Leiden und Sterben durch ihr Tun oder durch ihr Schweigen möglich gemacht haben" - diese beiden Sätze auf einem Zettel, angebracht am 3. Oktober 1990 vom damaligen Gräfenthaler Pfarrer an einem Stück Grenzzaun, bringen nach Meinung von Martin Weber die Gedanken vieler Menschen an jenem Tag auf den Punkt. Der ehemalige Grenzpolizeibeamte ließ mit fünf weiteren Zeitzeugen die vielen Besucher in der Kronacher Synagoge an seinen persönlichen Erinnerungen und Anekdoten an den Mauerfall teilhaben. Das, was die vielen Gäste auf Einladung der CSU zu hören bekamen, war spannender und authentischer als jeder Geschichtsunterricht.

"Von der Grenzöffnung bis zur Wiedervereinigung war es ein weiter Weg - mit einem zunächst völlig ungewissen Ausgang", zeigte sich Ortsvorsitzende Angela Hofmann in ihrer

Begrüßung sicher. Durch den Abend führte Ehrenvorsitzender Heinz Hausmann. Heute sei es, so Hausmann, für junge Leute kaum vorstellbar, dass die Grenze - bis auf den Übergang Falkenstein - komplett dicht gewesen sei. "Wir konnten mit Menschen in der DDR nicht telefonieren. Briefe wurden geöffnet und gelesen. Wenn man in der DDR bei uns Kronacher Tageszeitungen gefunden hätte, wäre es uns schlecht ergangen", blickte er zurück. Er erinnerte sich an eine nach dem Mauerfall völlig überfüllte, zur Fußgängerzone gewordene Stadt Kronach, mit fast leergekauften Geschäften.


"Wir waren unfrei und sind frei geworden"

Karl-Heinz Körner lebte bereits vor der Grenzöffnung in Neuhaus-Schierschnitz, ehemaliges Sperrgebiet. Sperrgebiet war ein fünf Kilometer tiefer Raum hinter der Grenze und zudem ein 500 Meter breiter Schutzstreifen. Man habe unter ständiger Überwachung gestanden. Ohne Ausweis ging kein Weg hinaus und hinein. "Wir hatten Respekt und Angst", gab er zu. Obwohl er kein Widerstandskämpfer gewesen sei, umfasse seine Stasi-Akte ein Dutzend Einträge. Leider sei heute für viele Freiheit zu selbstverständlich geworden. "Wir waren unfrei und sind frei geworden. Diese Dankbarkeit trage ich im Herzen", bekundete er.

Stephan Haasler, Jahrgang 1964, wuchs bei Dresden auf und lebt schon viele Jahre in Kronach. Er war mit seiner Ehefrau und seiner damals zweijährigen Tochter im Oktober 1989 in den Westen geflüchtet. "Wir sind mit unserem roten Trabi Richtung Polen gefahren und dann in den Zug nach Warschau gestiegen. Bis Warschau haben wir es geschafft. Aber der Weg vom Bahnhof zur Bundesbotschaft war Horror. Überall war die Stasi. Wir sind Zickzack gelaufen", blickte er zurück. Nach eineinhalb Stunden sei man irgendwie bei der Botschaft angekommen. Er habe sein Kind über die Mauer "geschmissen". Seine Frau habe es geschafft und letztlich auch er, obwohl man ihn am Fuß festhielt. "Es hat sich gelohnt. Wir sind froh und dankbar, hier zu sein. Wir sind frei."


Volle Innenstädte, leere Geschäfte

Martin Weber aus Ludwigsstadt kam 1965 in den Landkreis Kronach, wo er als Grenzpolizeibeamter am Grenzübergang Falkenstein zwischen Lauenstein und Probstzella tätig war. "Wir waren die Betrachter", erklärte der gebürtige Hirschaider. Lange Jahre hätten nur Funktionäre oder Rentner mit dem Zug in den Westen fahren dürfen, ab 1988 aber auch mehr und mehr Privatreisende. "Ich dachte damals, die DDR hebt den Deckel, um Dampf abzulassen", blickte er zurück. Am 11. November 1989 sei ein Sonderzug angekommen mit Hunderten von Leuten. "Ludwigsstadt war total überfüllt. Die Begeisterung war riesig", so Weber.

"Die Zeit der Grenzöffnung war meine arbeitsintensivste, aber auch schönste und aufregendste Zeit als Redakteur. Ich war hautnah dran und durfte den Atem der Geschichte spüren", meinte der Journalist Friedwald Schedel. Teilweise sei er von 5 Uhr morgens bis nach Mitternacht auf Achse gewesen, um bei einer Grenzöffnung oder einer Wiedersehensfeier dabei zu sein. Er habe sich immer wieder kneifen müssen, weil er gedacht habe, dass alles nur ein wunderbarer Traum sei. Schedel zeigte auch viele historische Fotos aus der Zeit - etwa wie der damalige Landrat Werner Schnappauf selbst zur Motorsäge griff oder wie er ein Stück Metallgitterzaun wie eine Trophäe in die Höhe reckte.


Die Pieta am Stacheldraht

Der Kronacher Kreisheimatpfleger Robert Wachter stellte zwei bauliche Zeichen der Grenze vor: Sprengschächte wie auch die "Pieta am Stacheldraht". In vielen Straßen seien militärische - etwa sechs Meter tiefe - Sprengkammern eingebaut gewesen, die auf den ersten Blick wie einfache Kanaldeckel aussähen. Durch Sprengung hätte man diese Straßen unpassierbar machen können. Im Landkreis Kronach habe er diese in neun Straßenabschnitten gefunden, eingebaut in den Jahren 1968 bis 1988. Sie seien aber nicht mit Sprengstoff gefüllt gewesen. Heute fast unbekannt besitzt die Kirche "St. Heinrich" in Steinbach am Wald ein bemerkenswertes christliches Kunstwerk der 1960er-Jahre: Die "Pieta am Stacheldraht". Die Gestaltung des Andachtsbilds geschah bewusst als Mahnmal an die nahe vorbeilaufende Grenze zur DDR mit ihren unmenschlichen Grenzzaunanlagen.
"25 Jahre Grenzöffnung - Das ist aus Sicht der Heimatpflege eine 25-jährige Erfolgsgeschichte", zeigte sich sein Amtskollege aus Sonneberg, Thomas Schwämmlein sicher. Die kulturellen Beziehungen zum nahen Franken seien eng. Viele erste Kontakte hätten bis heut Bestand. "Ich denke, dass in den 25 Jahren alles gut zusammengewachsen ist", so der Kreisheimatpfleger.

Dem schloss sich ein sichtlich beeindruckter MdB Hans Michelbach an. "Wir alle müssen beitragen, dass die Geschichte nicht verloren geht", appellierte der Wahlkreisabgeordnete. Dies gelte insbesondere für die seit 1990 geborenen 15 Millionen jungen Leute. Viele Länder hätten aus Angst keine Wiedervereinigung Deutschlands gewollt. Er sei froh, den glücklichsten Moment der jüngeren deutschen Geschichte miterlebt haben zu dürfen.
Der von Sabrina Buckreus, Katharina Lauer und Dominik Krügel vom Jugendorchester Kronach musikalisch umrahmte offizielle Teil schloss mit dem gemeinsamen Singen des Deutschlandliedes.