Die letzten Zeugen verstummen
Autor: Marian Hamacher
Wilhelmsthal, Donnerstag, 17. März 2016
Im Zuge der Bauarbeiten an der "KC3" sind bei Gifting drei Sprengstoffschächte beseitigt worden.
Die Panzer stecken fest. Ein fast zehn Meter tiefer und an die 30 Meter langer Krater durchzieht das Straßenstück zwischen der Fehenschneidmühle und Gifting. Es ist die Folge gleich dreier Explosionen. Ein Ausweichen? Unmöglich. Auf der linken Seite ragt eine Felswand empor, auf der anderen wartet unterhalb des steilen Abhangs ein Fluss. Die Kettenfahrzeuge befinden sich wie auf einem militärischen Präsentierteller. Doch noch ehe sie es bemerken, nähern sich auch schon die ersten Artilleriegeschosse. Ihr Ziel getroffen haben diese allerdings ebenso oft wie das Szenario an sich eintrat: nie.
Unübersehbare Krater
Höchstens auf den Schreibtischen der Bundeswehr dürfte es kurzzeitig existiert haben. Realität hätte es dennoch werden können - innerhalb weniger Stunden.
1969 ließ die Bundesregierung auch in dem Wilhelmsthaler Straßenstück drei Schächte einbauen. Mit mehreren hundert Kilo Sprengstoff gefüllt (siehe Infokasten), hätten diese dann einen unübersehbaren Krater in den Asphalt gerissen. Ausschlaggebend war die Sorge, Mitglieder des Warschauer Paktes - zu dem auch die nur wenige Kilometer entfernte ehemalige DDR gehörte - könnten die Strecke im Krisenfall als Einfallschneise dienen. Zum Glück blieb es beim Konjunktiv.
"Sperrobjektanlagen in Form von Sprengschächten waren in der Zeit des Kalten Kriegs landläufig wohl am meisten verbreitet", erklärt der Kreisheimatpfleger Robert Wachter. Zu entdecken sind die letzten stummen Zeugen dieser Epoche erst auf den zweiten Blick. "Eigentlich sieht er nur wie ein gewöhnlicher Kanaldeckel aus", sagt Wachter. Einen Hinweis darauf, dass sich darunter nicht etwa ein Kanalisationssystem offenbart, liefert ein im Deckel eingelassenes Metallkreuz. Besonderes Merkmal: Eine massive Schraube in der Mitte. "Eine 27er", präzisiert Udo Zitzmann. "Die war sogar noch mit frischem Fett geschmiert."
Mehrere Kilometer Asphalt haben die Kollegen des Baustellenleiters bereits abgetragen. Um die Kreisstraße "KC3" zu erneuern und zu verbreitern, stand auch der Abschnitt mit den drei ungewöhnlichen "Gullideckeln" auf dem Programm. Bis vor fünf oder sechs Jahren seien die Sprengschächte durch die Bundeswehr noch regelmäßig gewartet worden, erzählt Zitzmann und scherzt: "Vielleicht hatten sie ja Angst, dass die Russen doch noch kommen."
"Arbeit von einem Tag"
Lange dauerte es nicht, die ungewöhnlichen Giftinger Zeitzeugen für immer verschwinden zu lassen.
"Das ist vielleicht die Arbeit von einem Tag", schätzt Zitzmann. Mit Hilfe eines Baggers wurde der rund drei Tonnen schwere Betonquader, in den der Deckel eingelassen war, entfernt. Knapp 24 Stunden lang stand er hochkant am Straßenrand und offenbarte das Innere des Schachtes. Bevor er mit frischem Beton gefüllt und einer neuen Asphaltdecke überzogen wird, nutzte Wachter die Chance, den Schacht noch einmal aus der Nähe zu untersuchen. Interessiert blickt der Kreisheimatpfleger hinab. "Ah", ruft er überrascht und deutet auf eine fingerdicke rote Röhre. "Da wären bestimmt die Zündkabel durchgeführt worden." Heiner Eidloth nickt zustimmend. Auch den zweiten Vorsitzenden des Heimat- und Kulturvereins Steinberg hat die historische Neugier auf die Baustelle getrieben. "Ich wusste zwar, dass hier damals solche Schächte verlegt worden sind, nicht aber, wo genau", sagt der 66-Jährige.
Die Landesstelle für nichtstaatliche Museen hat dem Verein vorgeschlagen, ein Museum über das Thema Krieg und Frieden zu entwickeln. "Wir hatten hier in der Region schließlich die Hussitenkriege, den Dreißigjährigen Krieg oder den Preußisch-Bayerischen-Krieg", zählt Eidloth auf. Das erste Ausstellungsstück zum Thema Frieden hat er inzwischen sicher: Einen der Sprengschacht-Deckel darf er sich demnächst auf dem Betriebshof abholen.
Doch Wachter würde gerne auch an anderer Stelle auf das Relikt aus der jüngsten deutschen Vergangenheit aufmerksam machen. Wenigstens eine oder zwei solcher Sprengschachtformationen wolle er authentisch als Geschichtsdokument für den Landkreis bewahren. "Vielleicht an einer Stelle, an der ein Wanderweg vorbeiführt", sagt der 49-Jährige. Mit einer Hinweistafel könne dann erklärt werden, worum es sich handelt und für welchen Fall die Schächte benutzt worden wären. Erste Gespräche dazu habe er mit dem Frankenwaldverein bereits geführt.
Chance für spätere Generationen
Eine solche Lösung biete zudem die Chance, späteren Generationen zu zeigen, was die einstige Teilung der beiden deutschen Staaten bedeutete. "Nämlich, dass die BRD und die DDR einstmals auch militärische Gegner waren - und der Landkreis Kronach im Krisenfall nicht unerheblich betroffen gewesen wäre", sagt Wachter.Hoher Aufwand für tiefe Schächte
Größe Während die Schächte einen Durchmesser von etwa 60 Zentimetern hatten, lag der des 150 Kilo schweren Deckels bei 92 Zentimetern.
Lage Zufällig wurde der Standort der Schächte nicht ausgewählt, sondern zuvor artilleristisch vermessen. Denn der Gegner sollte im Krisenfall direkt unter Beschuss genommen werden können. In der Regel wurden drei Schächte in kurzen Abständen hintereinander gebaut. Die benachbarte Kanalisation sollte durch eine Explosion nicht in Mitleidenschaft gezogen werden.
Sprengstoff Aus Versehen hätte ein Sprengschacht allerdings nicht explodieren können, da der Sprengstoff in unmittelbarer Nähe in Bunkern gelagert wurde. Diese waren etwa als Fischerhütten getarnt. Als Faustformel galt, dass 100 Kilo pro laufendem Meter Tiefe des Schachts benötigt wurden. Weil die Schächte in Gifting rund sechs Meter tief sind, hätten die Wallmeister einiges zu tragen gehabt. Sie gehörten zur Pioniertruppe der Bundeswehr und waren auch für die Wartung verantwortlich.
Neue Funktion Die Fahrzeuge, die die Schächte in bundesdeutsche Straßen bohrten, wurden nach dem Ende des Kalten Krieges umgerüstet. Seitdem bohren sie in Afrika Brunnen und leisten so Entwicklungshilfe.