Die Eisenbahn rollte einst auf der Straße nach Tettau
Autor: Friedwald Schedel
Tettau, Freitag, 04. November 2016
Vor 20 Jahren fuhr der letzte Culemeyer über den Rennsteig. Von 1952 bis 1996 wurde die Tettauer Glasindustrie so mit Rohstoffen versorgt.
Berti Neubauer aus Pressig ist der letzte noch lebende Fahrer, der Eisenbahn-Waggons quer über den Rennsteig chauffierte. Er saß dabei am Steuer eines 500 PS starken Söllner-Schwerlasters, eines Zehnzylinders mit Turbo von Mercedes, der einen so genannten Culemeyer-Straßenroller hinter sich her zog. Der Straßenroller war ein speziell für den Transport von Eisenbahnwaggons konstruierter Tieflader.
Auch Berti Neubauers Chef Christian Söllner saß schon in jungen Jahren am Lenkrad eines solchen PS-starken Lasters. Allerdings konnte er seine Runden nur auf dem Firmenhof in Kleintettau drehen, denn er hatte noch keinen Führerschein. "Die Polizei hat mich und meinen Bruder öfters beim Schwarzfahren auf dem Firmengelände erwischt, uns die Schlüssel abgenommen und sie unserem Vater Ralph gegeben", erinnert sich Christian Söllner mit einem Lächeln.
Die Handgriffe saßen
Berti Neubauer ist mit dem Culemeyer zwischen 1987 und 1993 tausende Male auf dem Rennsteig hin und her gefahren. Die vollen Waggons brachten er und sein Beifahrer vom Bahnhof Steinbach am Wald nach Tettau. Von dort nahmen sie entladene Schüttgut-Waggons wieder mit zurück nach Steinbach am Wald. Bis zu sieben Fuhren pro Tag waren die Regel. "Das war Akkord, die Handgriffe saßen", sagt Berti Neubauer zurückblickend. Im Winter wurden zusätzliche Gewichte auf den Turbolaster geladen, bei dem alle drei Achsen angetrieben wurden. "Unser Zugfahrzeug wog dann 27 Tonnen, hinten hatten wir über 50 Tonnen dran", erinnert sich Berti Neubauer. Die Auflastung war wichtig, damit der Anhänger das Zugfahrzeug bei Glätte nicht wegschob.
Schienen im Tettautal
Die Versorgung der Glas- und Porzellanindustrie des Tettauer Winkels erfolgte fünf Jahrzehnte lang über die Schiene, denn die Erschließung mit der Eisenbahn begann im Jahr 1902. Bereits ein Jahr später rollten die ersten Züge auf der knapp 17 Kilometer langen Strecke zwischen dem Bahnhof Pressig-Rothenkirchen (377 Meter über dem Meer) über Schauberg (498 Meter) bis Tettau (622 Meter). Seit 1890 hatten sich die Verantwortlichen um die Errichtung einer Stichbahn nach Tettau bemüht. Die Trassenführung von Steinbach am Wald aus - entlang des Rennsteigs - wurde verworfen, denn die Steigung durch das Tal des Tettauflusses war gleichmäßig und nicht zu steil. Wie sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausstellen sollte, hatte man damit die falsche Entscheidung getroffen, denn nach der Grenzziehung im Jahr 1945 lagen insgesamt sieben Streckenabschnitte in der sowjetischen Besatzungszone, der längste mit sechs Kilometern zwischen Heinersdorf und Schauberg. In Heinersdorf fanden jeweils Fahrgastkontrollen durch sowjetische Soldaten statt und während der Fahrt durch die sowjetische Besatzungszone bzw. DDR mussten Fenster und Türen der Züge geschlossen bleiben. Immer wieder wurden Fahrgäste von den Sowjets schikaniert, so dass die Zahl der Reisenden immer weniger wurde. Ende Mai 1952 sperrte die DDR die Streckenabschnitte in ihrem Territorium, die Industrie des Tettauer Winkels war mit einem Male von der Versorgung mit Rohstoffen abgeschnitten. Planungen zum Bau einer Umgehungsbahn wurden wegen der zu hohen Kosten verworfen.
50 000 Fahrten in 25 Jahren
Bereits Anfang Juli 1952 rollte der erste Culemeyer der Bundesbahn zwischen Steinbach am Wald und Tettau. Dort wurden die Schüttgut-Waggons mit Quarz, Soda, Kalk, Dolomit und Feldspat auf die so genannte Inselbahn abgeladen und von einer kleinen Diesellok zu den Abnehmern geschoben. Die Zahl der Transporte nahm stark zu. In den ersten 25 Jahren, also von 1952 bis 1977, wurden 50 000 Culemeyer von Steinbach nach Tettau gefahren. Trotzdem zog sich die Bahn 1987 aus dem Geschäft zurück und überließ die Transporte der Firma Söllner aus Kleintettau.
Direkt vom Hersteller
Der Culemeyer-Betrieb wurde wegen des großen Aufwands und der immensen Kosten vor 20 Jahren eingestellt. Die Firma Söllner pumpte um die Jahrtausendwende die Rohstoffe für die Glasindustrie im Bahnhof Pressig aus Eisenbahnwaggons in Silo-Laster ab und brachte sie nach Tettau, aber auch nur für einige Jahre. Denn auch dieses Umladen, der Einzelbahnwaggonverkehr, wurde durch die Bahn eingestellt. Seit Jahren schon fahren die Silolaster von den Rohstofflieferanten, zum Beispiel Hirschau, nach Tettau. Drei Kipper und fünf Silo-Lastzüge von Söllner-Schwerlast sind rund um die Uhr im Einsatz, um die Glaswerke in Tettau mit den Rohstoffen zu versorgen.
So funktioniert der Transport mit Culemeyer
Die Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft (DRG) war nach dem Ersten Weltkrieg Marktführer beim Transport von Gütern. Doch die Anzahl von Lastwagen stieg von Jahr zu Jahr. So standen die Gütertransportmöglichkeiten der Eisenbahn im Wettbewerb mit der Wendigkeit der Lastkraftwagen. Daher wurde nach Möglichkeiten gesucht, um Unternehmen, die nicht in der Nähe eines Gleisanschlusses ansässig waren, für den Eisenbahntransport zu gewinnen. Mit dem "Von Haus zu Haus"-Konzept wurde ein Behälter-Verkehr entwickelt, der den Kunden die Möglichkeit bot, verschieden große Behälter oder auch verschiedene Güterwagen vor Ort zu erhalten. Johann Culemeyer - zuständig für den Maschinenbau der DRG - entwickelte nach diesen Anforderungen einen Lastwagen-Anhänger zur Beförderung von Eisenbahnwagen. Dieses Straßenfahrzeug, der Straßenroller, ermöglichte eine wirtschaftliche und einfache Beförderung von Güterwagen und Schwerlasten auf der Straße. Die Güterwagen konnten sogar beim Kunden abgestellt werden, wenn dieser gar kein Gleis errichten ließ. Dazu benutzte man das fahrbare Absetzgleis, einen rechteckigen Stahlrahmen, auf dem ein Waggon von einem Straßenroller aus abgesetzt wurde.
Neben dem Transport von Eisenbahnwagen wurde der Straßenroller auch zur Beförderung von Schwerlasten wie zum Beispiel von Maschinen, Transformatoren, Kesselanlagen, Lokomotiven und Stahlträgern eingesetzt. Vor allem die Wehrmacht nutzte die Kombination von mehreren Culemeyer-Anhängern hintereinander sowie von mehreren leistungsstarken Zug- und Schublastern für den Transport von schweren Teilen: Im Jahr 1940 wurden 15 Flusstankschiffe, im Jahr 1942 sechs Unterseeboote von der Elbe in Dresden über mehr als 300 Kilometer auf der Autobahn an die Donau in Ingolstadt überführt. Jedes Tankschiff wog etwa 140 Tonnen, jedes U-Boot etwa 274 Tonnen - nach dem Entfernen aller für den Transport entbehrlichen Teile.
Der Culemeyer Straßenroller
Erfinder Benannt ist der Straßenroller, mit dessen Hilfe man schwere Lasten und vor allem Eisenbahnwaggons auf der Straße transportieren konnte, nach Johann Culemeyer (1883-1951), einem Reichsbahndirektor, der dieses "fahrbare Anschlussgleis" im Jahr 1931 als Patent anmeldete.Promotion Johann Culemeyer entwickelte verschiedene Bauarten von Straßenrollern für unterschiedliche Anforderungen. Er promovierte 1934 mit der Arbeit "Das Straßenfahrzeug für Eisenbahnwagen, eine Verkehrsaufgabe und ihre Lösungen".
Funktion Der Culemeyer-Straßenroller war ein Tieflader, der - zum Beispiel in Steinbach am Wald - von einem zugkräftigen Lastwagen bis ans Anschlussgleis, auf dem die zu transportierenden Güterwagen standen, manövriert wurde. Per Seil wurde jeweils ein Güterwaggon auf den Culemeyer gezogen, verzurrt und nach Tettau gefahren. Dort rollte er auf das Anschlussgleis zur Glasfabrik Tettauer Glas. Bei Heinz Glas blieb der Waggon auf dem Culemeyer und das Schüttgut wurde in den Bunker geblasen.
Entwicklung Der erste Culemeyer hatte im Jahr 1932 vier Achsen, 16 Reifen und eine Tragkraft von 31 Tonnen. Durch die Erhöhung der Achs- und Reifenzahl wurde die Tragfähigkeit im Jahr 1938 auf 133 Tonnen erhöht. Von Oktober 1933 bis April 1938 wurden etwa 163 000 Güterwagen für 140 Kunden transportiert. Im Juli 1942 waren es bereits 500 000 Güterwagen, die Waren über die Straßen transportiert hatten.
Nachkriegszeit Im Lauf des Zweiten Weltkriegs wurden viele Straßenroller zerstört. Die Deutsche Bundesbahn (DB) übernahm im Jahr 1949 insgesamt 161 Straßenroller. Ab 1953 wurde im Auftrag der DB eine neue Generation von Straßenrollern entwickelt. Die Grundversion war ein einteiliger, 16-rädriger, luftbereifter Straßenroller mit nur außenliegenden Rädern und einer Nutzlast von 40 Tonnen und Eigengewicht von acht Tonnen.
Weitere Informationen und Bilder gibt es im Internet unter dem Suchbegriff "Culemeyer".