Berufswunsch Priester
Derart uneinsichtige Menschen sind laut Geiger, für den die Strafverteidigung mehr Berufung als Beruf ist, aber eher die Ausnahme. Eigentlich wollte er als junger Mann Priester werden und hat sogar schon einige Zeit im Kloster verbracht. Doch während des Wehrdienstes entdeckte der junge Geiger seine wahre Berufung: "Ich war Vertrauensmann für 460 Leute und habe die Soldaten bei Disziplinarverfahren vertreten", erinnert er sich. "Da habe ich gemerkt, dass mir das richtig gut liegt." Geiger schloss nach seinem Studium zwei Staatsexamen mit Auszeichnung, was Juristen als Prädikat bezeichnen, ab: "Mir haben damals alle Türen offen gestanden. Ich hätte auch Richter oder Notar werden können." Die Strafverteidigung sei ihm jedoch einfach in die Seele gelegt gewesen. "Bis heute habe ich meine Wahl keine Sekunde bereut."
Was im Gespräch mit Geiger deutlich wird: Trotz der Fehltritte seiner Mandanten sieht er stets das Gute in ihnen. "Es gibt immer Gründe, warum ein Mensch so geworden ist oder das tut, was er getan hat", versucht der Mann mit den freundlichen Augen zu erklären. Das persönliche Umfeld und die ersten Lebensjahre, an die er sich später nicht mehr erinnern kann, seien für einen Menschen sehr prägend - und oft lägen die Gründe für sein Handeln in der Vergangenheit.
Doch wie schafft er es, vor Gericht eine mildere Strafe für einen Mandanten zu fordern, der beispielsweise ein Kind getötet hat? "Man muss kein Mitleid mit diesen Menschen haben", erklärt Geiger. Aber auch bei solch erschütternden Verbrechen gebe es Gründe, die das Handeln der Täter erklären könnten.
Die Verteidigung von jungen Menschen liegt dem Juristen besonders am Herzen: "Bei meinen Plädoyers nehme ich sie mir meist mehr zu Brust als der Staatsanwalt", berichtet Geiger, der sich selbst als eine Art strenger Vater sieht. "Sie sollen merken, dass vor Gericht zu stehen keine Spaßveranstaltung ist." Nur so stünden die Chancen gut, dass die Jugendlichen als Erwachsene nicht wieder auf die schiefe Bahn geraten.
Anwälte sind auch nur Menschen
Auch privat hält Geiger nicht viel vom Lügen: "Wenn ich merke, dass jemand nicht ehrlich ist, sage ich das demjenigen direkt ins Gesicht." Kleine Ausreden habe er jedoch auch gelegentlich schon verwendet, etwa, wenn ein Mandant zum dritten Mal anruft und fragt, ob die Klage schon fertig ist. "Da habe ich schon mal ,Ja' gesagt und mich dann erst hingesetzt und sie gemacht." Auch der ehrlichste Verteidiger ist eben nur ein Mensch.
Wenn angelogen zu werden zur Berufsbeschreibung gehört
Kein Prozess ist wie der andere. Das erlebt der Direktor des Amtsgerichts Kronach, Jürgen Fehn, auch nach über 20 Jahren in seinem Amt als Strafrichter noch täglich. Auf die Frage, wie es die Angeklagten mit der Wahrheit halten, muss der 54-Jährige lachen: "Als Strafrichter sind Sie es gewohnt, angelogen zu werden."
Das jedoch sei das gute Recht eines Beschuldigten. "Angeklagte dürfen lügen, gestehen oder eben schweigen", erklärt Fehn, dessen Aufgabe es ist, die Wahrheit dann trotzdem herauszufinden. "Nach langjähriger Erfahrung hat man da schon einige psychologische Tricks auf Lager", verrät der Vorsitzende. Welche genau, das bleibt sein Geheimnis. Doch auch die Körpersprache spiele eine Rolle.
Zwar darf der Beschuldigte flunkern, aber niemanden fälschlicherweise belasten. "Wenn er behauptet, die Tat habe zum Beispiel Herr Meyer begangen und sich dann herausstellt, dass es doch der Angeklagte selbst war, wird gegen ihn gleich das nächste Verfahren wegen falscher Verdächtigung eröffnet", erläutert Fehn.
Hin und wieder würden Prozesse eine unerwartete Wendung nehmen: "Es kommt schon mal heraus, dass der Hauptbelastungszeuge ein Motiv hat, den Angeklagten zu beschuldigen - oft, wenn es um ein Mädchen geht." Dann darf der Zeuge ein paar Wochen später selbst auf der Anklagebank Platz nehmen.
Entgegen dem weit verbreiteten Irrglauben kommt es laut Fehn so gut wie nie vor, dass jemand unschuldig verurteilt wird. Hat der Richter "vernünftige" Zweifel an der Schuld des Angeklagten, sei ein vorschnelles Urteil die schlechteste Option. "Dann vertage ich das Ganze, lege einen Fortsetzungstermin fest und lasse das erst einmal sacken."
Es passiert nicht oft, aber gelegentlich wird auch der erfahrene Richter noch überrascht: Der 54-Jährige erinnert sich lebhaft an eine Jugendstrafsache, bei der es darum ging, ob der Angeklagte noch einmal mit Arbeitsstunden davonkommt.
"Der Verteidiger hat eine halbe Stunde lang ein flammendes Plädoyer für seinen Mandanten gehalten, während der Staatsanwalt vier Wochen Jugendarrest gefordert hat", erzählt der Strafrichter. Als der junge Mann jedoch das letzte Wort hatte, habe der nur gesagt: "Ich schließe mich den Worten des Staatsanwaltes an."
Seinen Wunsch, ins Gefängnis zu gehen, hat Jürgen Fehn dem Angeklagten bei so viel Unbelehrbarkeit dann gerne erfüllt.