Der Begriff Pflegebedürftigkeit muss neu definiert werden
Autor: Veronika Schadeck
Neukenroth, Sonntag, 18. Mai 2014
Der VdK-Bezirksverband Oberfranken hatte unter dem Motto "Große Pflegereform jetzt!" in die Zecherhalle Neukenroth zu einer Großveranstaltung eingeladen. Über 400 Zuhörer aus ganz Oberfranken verfolgten die Podiumsdiskussion.
An der Diskussion nahmen Vertreter aus Politik, Krankenkassen, Wohlfahrtsverbänden und auch die Präsidentin des VdK Deutschlands, Ulrike Mascher, teil. Moderiert wurde die Veranstaltung von der Leiterin der FT-Lokalredaktion Kronach, Corinna Igler.
Alle wünschen es nicht, doch es kann jeden treffen - dass er eines Tages im Alltag nicht mehr alleine klarkommt und auf Hilfe seiner Angehörigen, beziehungsweise von Pflegekräften angewiesen ist.
Seit 20 Jahren existiert die soziale Pflegeversicherung - an den Ausführungen wurde deutlich, dass das bisherige Modell Schwachstellen und Ungerechtigkeiten aufweist.
Beispiel: Eine Bürgerin ist an Demenz erkrankt. Sie kann nicht mehr alleine gelassen werden und braucht rund um die Uhr jemanden, der nach ihr schaut. Ihre Tochter pflegt sie mit Hilfe eines ambulanten Pflegedienstes, hat dafür ihre Arbeit aufgegeben.
Die Pflegeversicherung hat die Pflegestufe I anerkannt. Das Geld reicht für ungefähr 30 Minuten Pflege am Tag, inklusive Anfahrt. Zusätzlich erhält die Patientin Leistungen für Betreuung in Höhe von 100 Euro. Damit kann ihre Tochter eine Betreuungskraft finanzieren, die stundenweise zum Vorlesen oder Spazieren gehen kommt.
Zusätzlich besucht die Patientin eine Tagespflegeeinrichtung. Dafür zahlt die Pflegeversicherung bis zu 450 Euro. Die Tochter kann aber nur den halben Zuschuss in Anspruch nehmen, weilst sonst die Pflegesachleistung gekürzt wird. Von den 225 Euro kann die Patientin einmal pro Woche die Tagespflege besuchen und erhält dort auch ein Essen.
Das ist zu wenig und zu ungerecht, vertrat nicht nur die VdK-Präsidentin Ulrike Mascher, die Meinung. Sie ging auf die VdK-Kampagne "Große Pflegereform jetzt!" ein. Demnach müsse der Pflegebedürftigkeitsbegriff neu definiert werden.
Insbesondere Demenzerkrankungen müssen bei der Begutachtung und Einstufung berücksichtigt werden. Die Arbeit der pflegenden Angehörigen müsse stärker gefördert werden, sie müsste auch bei den Renten berücksichtigt werden.
Die Städte und Gemeinden müssen in die Lage versetzt werden, ihre Infrastruktur so auszubauen, dass sie für eine alternde Bevölkerung gerüstet ist. Statt der bisherigen drei Pflegestufen sind differenziertere Pflegegrade von ein bis fünf vorgesehen. Demenz müsste bei der Einstufung stärker beachtet werden. Die Pflegeheime müssten mehr Personal für Betreuung bekommen. Das alles kostet Geld, gerade in Hinblick, dass die Zahl der Pflegebedürftigen steigen wird.
Die Podiumsteilnehmer hatten auch Vorschläge bezüglich Finanzierung der Pflegereform parat. So sprach Mascher davon, dass der Mehrbedarf in Höhe von sechs Milliarden Euro sich durch eine Erhöhung des Beitrags zur Pflegeversicherung in Höhe von 0,5 Prozent finanzieren lässt.
Sie sprach sich - im Gegensatz zu MdL Jürgen Baumgärtner - dagegen aus, von einem Fünftel dieser Summe Rücklagen zu bilden. Und sie betonte: "Gehandelt werden muss jetzt - in dieser Legislaturperiode!". Sonst, so meinte sie, "wird aus einem Problem eine Katastrophe".
Aufgrund dessen, dass Versicherte einer Privatkrankenkasse weniger Pflege benötigen, als Versicherte einer gesetzlichen Krankenkasse plädierte sie für einen Ausgleich zwischen PKV und GKV.
Der Landesgeschäftsführer des VdK Bayern, Michael Pausder sprach sich dafür aus, die Pflege auch mit Steuergeldern zu finanzieren.
Jürgen Baumgärtner vertrat die Auffassung, dass zuerst die Bürokratie "heruntergefahren" werden müsste. Es sollte bei den Patienten lediglich Veränderungen dokumentiert werden. Dadurch würden die Pflegekräfte viel mehr Zeit für ihre Patienten zur Verfügung haben.
Sparen könne man auch beim MDK. Es sei unverständlich, so der Leiter des BRK-Seniorenhauses in Kronach, Harald Schubert, dass seine Leute dokumentieren müssen, warum ein Heimbewohner den Morgengruß nicht erwidert. Es wäre viel gewonnen, wenn die Pflegekräfte ihre Energie, die sie am Computer verbrauchen, bei den Patienten einsetzen könnten.
Deutlich wurde bei der Diskussion auch, dass Geld alleine nicht genügt. Insgesamt müsse auch der Pflegeberuf attraktiv gemacht werden. Dazu gehören die gesellschaftliche Anerkennung und eine bessere Entlohnung. Zudem, so die Geschäftsführerin der Caritas, Cornelia Thron, sollte innerhalb der Ausbildungszeit auch die ambulante Pflege einen höheren Stellenwert einnehmen.
Einig waren sich die Podiumsteilnehmer darüber, dass die Arbeit der pflegenden Angehörigen mehr Beachtung finden müsse. Denn ohne deren Beitrag würden 3,2 Millionen mehr Vollzeit-Pflegekräfte benötigt werden. Das gibt zum einen der Arbeitsmarkt nicht her und es wäre unbezahlbar. Deutlich wurde auch, dass es qualifizierte Fachkräfte, die Bezahlbarkeit der Pflege deutliche Herausforderungen sind.
Es herrschte Stille im Saal, als der Facharzt mit Innere Medizin/Geriatrie sowie der Chefarzt und ärztlicher Leiter der Geriatrischen Fachkliniken Neuburg/Donau und Ingolstadt-West, Not-Rupprecht Siegel Fragen aus dem Publikum beantwortete: Wie erkennt man Demenz? Wie geht man damit um? Kann man vorbeugen?
Demenz erkenne man an Verhaltensveränderungen, wenn also Dinge, die sonst funktionieren anders sind. Es sei empfehlenswert, wenn ein Angehöriger sein Verhalten dem Demenzkranken anpasst. Er sprach vom Begriff "Validation" (eine wertschätzende Haltung, die für die Betreuung und Pflege von Demenzkranken entwickelt wurde).
Durch den Einklang von körperlicher und geistiger Anstrengung könne Demenz verzögert werden. Der Arzt riet: Jeder sollte solange als möglich und solange es ihm Freude mache, einer Arbeit nachgehen können. Er sprach sich für die Abschaffung einer Zwangsberentung aus. Wichtig sei zudem, dass jeder Mensch eine Aufgabe habe.
Musikalisch umrahmt wurde die Podiumsdiskussion von der Bläsergruppe Neukenroth. Dass diese Veranstaltung im Stockheimer Gemeindeteil stattfand, darüber freuten sich der Vorsitzende des VdK-Kreisverbandes Hans Hausmann, sein Stellvertreter Dieter Wolf, der weitere stellvertretende Landrat Bernd Steger und der Stockheimer Bürgermeister, Rainer Detsch, CSU-MdB Emma Zeulner und SPD-MdL Klaus Adelt.