Daniel Leistner hält sich in Frankreich bei seiner Freundin auf. Das EM-Halbfinale zwischen Deutschland und Frankreich hat deshalb eine besondere Bedeutung.
                           
          
           
   
          Ihre Stimme wird leiser. Sie wählt ihre Worte mit Bedacht. Ein wenig wirkt es, als wolle sie sich beim deutschen Reporter am anderen Ende des Telefons für das entschuldigen, was sie da sagt. Doch dann spricht Martine Le Guennec die Prognose, auf deren Eintreffen heute Abend kein deutscher Fußballfan hofft, doch mit einer gewissen Überzeugung aus. "Deutschland war vor zwei Jahren Weltmeister. Jetzt ist Frankreich dran und wird Europameister", sagt die 59-Jährige, die sehr gut Deutsch spricht. Und aus dem Hintergrund hört man Zustimmung. Ihr Mann Pierre-Yves und Enkel Antonin sind überzeugt vom Sieg der "Équipe Tricolore".
"Sie haben fast jedes Spiel gesehen", sagt Le Guennec, die in Kronach keine Unbekannte ist. Die Nachhilfelehrerin aus Landevant, einem kleinen Ort wenige Kilometer östlich der Kronacher Partnerstadt Hennebont, begleitet jedes Jahr einen Schüleraustausch an die Realschule 1 und ist mit einigen deutschen Lehrkräften befreundet. 
  
   EM bestimmt den Feierabend 
 
"Die Leute dort sind sehr freundlich, wir wurden empangen wie Könige", erinnert sie sich an ihre erste Reise von der Bretagne nach Kronach vor acht Jahren. Die Burg habe sie an die historische Altstadt von Hennebont erinnert. Der 16 000 Einwohner große Ort war im 13. Jahrhundert ein wichtiges Handelszentrum, was an einigen gut erhaltenen Gebäuden der Innenstadt rund um die Kirche Notre-Dame-de-Paradis noch gut zu erkennen ist. "Sonst ist Kronach aber ganz anders", sagt die Französin, "vor allem die Landschaft".
In der Bretagne, die die Halbinsel im Nordwesten Frankreichs umfasst, gibt es nämlich keine Mittelgebirge wie den Frankenwald. Zum Entspannen geht es stattdessen an den wenige Kilometer entfernten Atlantik. "Antonin und seine beiden Schwestern, die uns in den Ferien aus Nantes besuchen kommen, sind ganz verrückt auf den Strand", sagt Martine Le Guennec.
Zuletzt musste die Familie allerdings beim Baden oft auf die Uhr schauen. Zu den EM-Spielen wollten Antonin und Yves-Pierre ja wieder zuhause sein. "Ich habe meistens etwas anderes geschaut, aber am Jubel der beiden immer gewusst, wie es steht", erzählt Martine Le Guennec über die Feierabende, die dank des Fußballs zuletzt andere Gesprächsthemen hatten als in den Wochen zuvor. Die politischen Probleme der "Grande Nation" sind in den Hintergrund getreten und wurden abgelöst von einer EM-Euphorie. 
Eine Entwicklung, die nicht nur in der Bretagne zu beobachten ist. Spätestens seit dem 5:2 gegen Island im Viertelfinale hat die zu Beginn des Turniers noch ein wenig schüchterne Euphorie mittlerweile die höchste Stufe erreicht. "Während des Spiels sind sie hier komplett ausgerastet", sagt Daniel Leistner. Der langjährige Intendant der Kronacher Faust-Festspiele ist momentan zu Besuch bei seiner französischen Freundin in Marmande, einer 18 000 Einwohner zählenden Stadt im Südwesten des Landes. Rund 80 Kilometer entfernt von Bordeaux, wo sich Deutsche und Italiener ihren Krimi lieferten. 
  
  Der Südwesten flippt aus
 
"Ich hatte leider keine Karte. Das verrückte Spiel war aber sowieso nichts für mein schwaches Herz", sagt Leistner, der das Match zusammen mit seiner Freundin in deren Heimatstadt in der Region Aquitanien ansah. Eine Beziehung, die heute auf eine Probe gestellt wird. "Sie sagt zwar immer, dass sie sich auch für Deutschland freut", sagt Leistner. "Während der Frankreich-Spiele merkt man aber, für wen ihr Herz schlägt." Vor allem das 5:2 gegen Island habe die Emotionen der Franzosen geweckt. "Jetzt ist die Begeisterung da und alle denken, dass ihre Elf Europameister wird", sagt Leistner, der seinen "ersten freien Sommer seit 20 Jahren" erlebt und in Frankreich mithilft, ein altes Bauernhaus zu renovieren. 
  
  Deutscher unter vielen Blauen
 
Eigentlich - so die Beobachtungen des Deutschen - "sind hier alle so richtig sauer auf den Präsident und seine Reformen". An vielen Orten habe es brennende Reifen auf Verkehrskreiseln gegeben. Seit die EM aber auf die Zielgerade eingebogen ist, wirke der Fußball als Flucht vor der Krise. Das ganze Land träume jetzt vom Titel. Sogar mitten in den Fernsehsendungen gebe es Einspieler, die die Zuseher einschwören, die französische Elf zu unterstützen. 
"Wenn Deutschland gewinnt, gehe ich nicht aus dem Haus", sagt Leistner, der in Marmande ohnehin wohl niemanden zu einer Siegesfeier animieren könnte. Dort ist er nämlich der einzige Deutsche unter vielen Blauen. "Unser Nachbar hat sogar sein ganzes Haus mit blau-weiß-roten Luftballons geschmückt", sagt der Schauspieler und Regisseur, der im Gegensatz zur Familie La Guennec keine Prognose wagt. "Das Glück wird entscheiden." 
 In der Bretagne hingegen ist man sich trotz der Freundschaft nur über die Höhe des Sieges uneinig. 2:0 tippt Opa Yves-Pierre für das Spiel, das entscheidet, ob in Frankreich in den nächsten Tagen weiter Party oder wieder Krise ist. Enkel Antonin, der die beiden Bayern-Spieler Kingsley Coman und Thomnas Müller als Lieblingsspieler hat, ist vorsichtiger. Er wettet auf ein 2:1. Natürlich für Frankreich.