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Augenzeugen berichten: So kam es zum Zugunglück im Kronacher Bahnhof mit zwei Toten


Autor: Sandra Hackenberg

Kronach, Montag, 26. Oktober 2020

Warum zwei Männer im Kronacher Bahnhof von einem Güterzug erfasst wurden, beschäftigt Polizei, Zeugen und Helfer. Die schwere Suche nach der Ursache und einer Art von Sinn.
Am Montag erinnert an Gleis 3 nichts mehr an die tragischen Szenen, die sich am Kronacher Bahnhof ereigneten und zwei Todesopfer forderten. Foto: Sandra Hackenberg


Die zwei Männer waren sich mit hoher Wahrscheinlichkeit noch nie begegnet. Auf tragische Weise kreuzen sich ihre Wege am vergangenen Samstagabend am Kronacher Bahnhof. Wohin auch immer sie in den frühen Abendstunden unterwegs waren, sie sollen dort nie ankommen.

Zwei Leben - das eine 73 Jahre lang, das andere 50 - werden in einem flüchtigen Augenblick beendet. Ein Güterzug reißt die beiden Männer gegen 17.30 Uhr bei seiner Durchfahrt durch den Bahnhof auf Gleis 3 mit sich. Der 73 Jahre alte Senior aus Lichtenfels ist augenblicklich tot. Der 50 Jahre alte Kronacher liegt tödlich verletzt im Gleisbett.

Was in den Minuten vorher passiert ist, versuchen die Kriminalpolizei und die Staatsanwaltschaft Coburg zu ermitteln. Doch warum der ältere Herr im Gleisbett lag, warum der 50-Jährige sich selbst nicht mehr retten konnte - vielleicht bleiben diese Fragen für immer unbeantwortet.

Etwas Licht ins Dunkel bringen die Augenzeugen. Die Dämmerung setzt gerade ein, der Bahnhof ist leer an diesem Abend. Vor einer halben Stunde ist der letzte Zug in Richtung Lichtenfels auf Gleis 3 abgefahren, der nächste soll laut Fahrplan erst in einer halben Stunde kommen. Ein junger Mann fährt in seinem Auto auf der B 85 in Richtung Nordbrücke.

Im Augenwinkel erregt eine Bewegung auf den Gleisen seine Aufmerksamkeit: "Ich habe einen älteren Mann auf den Gleisen halb liegend gesehen und ein zweiter Mann war daneben, eventuell um Hilfe zu leisten." Auch den Rollator des Seniors habe er erkannt. "Da bin ich mir aber nicht mehr sicher, ob der auf den Gleisen lag." Der Zeuge beeilt sich, den Bahnhof zu erreichen. Doch noch während er auf die Nordbrücke zusteuert, kommt ihm ein Güterzug entgegen.

Eine dunkle Vorahnung breitet sich in ihm aus und als er zwei Minuten später im Bahnhof steht, muss er feststellen: Was er befürchtet hat, ist wahr geworden. "Da war alles schon passiert. Als ich an die Stelle gekommen bin, lag der Rollator auf dem Bahnsteig." Drei andere Augenzeugen seien ebenfalls zu Hilfe geeilt, doch sie können nicht mehr tun, als die Rettungskräfte zu verständigen.

Vier Minuten später leisten die Rettungssanitäter des BRK Erste Hilfe auf Gleis 3. Florian Kristek ist einer der Ersten und erinnert sich daran, dass alle Rettungskräfte, die Leitstelle und die Helios-Frankenwaldklinik vorbildlich zusammengearbeitet hätten. "Jeder Beteiligte hat sein Bestes gegeben", schildert der Rettungssanitäter. "Vom Einsatzort bis zum Krankenhaus haben wir nicht einmal 20 Minuten gebraucht." Da sei nichts gewesen, was sie und die Ärzte schneller oder besser hätten machen können. Doch der Kampf ist aussichtslos: Der 50-jährige Kronacher stirbt im Krankenhaus.

Währenddessen betreuen vier Ehrenamtliche des Kriseninterventionsteams die Augenzeugen und den Fahrer des Güterzugs. Der konnte und durfte seine Fahrt nicht fortsetzen. Er muss nun mit den Bildern jener Art leben, die sich für immer in das Gedächtnis einbrennen. Verhindern können hätte er die Tragödie auf Gleis 3 nicht: Selbst wenn die Geschwindigkeit nur 40 Kilometer pro Stunde betragen hätte - ein Zug hat kaum Reibung.

Darum kann es sein, dass der bis zu 3000 Tonnen schwere Schienen-Koloss erst nach einem Kilometer zum Stehen kommt. "Wenn der Zugführer sieht, was da auf dem Gleis vor sich geht, ist es in der Regel schon zu spät", erklärt ein Sprecher der Deutschen Bahn auf FT-Nachfrage, von dem Unglück hörbar betroffen. "Das ist ein besonders tragischer Unfall, bei dem es drei Opfer gibt. Wir tun nun alles dafür, dass es dem Lokführer besser geht und er seine Arbeit hoffentlich bald wieder ausüben kann." Das sei bei derartigen Erlebnissen nicht immer der Fall.

Noch eine Sache liegt dem Bahnsprecher am Herzen: "Falls jemand in so eine Situation kommen sollte, auf keinen Fall selbst ins Bahngleis gehen, auch wenn das vielleicht der erste Instinkt ist, sondern sofort die 110 wählen." Die Polizei könne binnen Sekunden die Notfallleitstelle der Bahn in München verständigen, die wiederum mit einem Knopfdruck sofort den Zugverkehr im kompletten Bahnhofsbereich stoppen kann. "Das sind wertvolle Sekunden, die helfen können, ein Unglück wie dieses zu verhindern." Ein wichtiger Hinweis, der vielleicht künftige Unglücke verhindert. Die beiden jüngsten Opfer kann er nicht mehr retten.

Es ist schwer, in unerklärbaren Unglücken wie diesen einen Sinn zu sehen. Wer doch nach ihm sucht, findet ihn vielleicht in dieser Tatsache: In einer Zeit, in der viele Menschen nur an sich zu denken scheinen und der Ton rauer wird, hat ein Kronacher sein eigenes Leben gegeben, weil er das eines älteren Herrn unbedingt retten wollte: In einem Akt von Nächstenliebe.