Warum darf man seine Familie weiterhin nicht sehen, während andere Bereiche des öffentlichen Lebens schrittweise wieder hochgefahren werden? Warum müssen manche Menschen in Zeiten der Corona-Krise vereinsamen, dürfen aber wieder shoppen gehen? Es ist paradox. Ein Kommentar.

Das Leben der meisten Menschen hat sich vor rund sechs Wochen nahezu komplett umgekrempelt. Das Leben spielt sich seitdem vorwiegend in den eigenen vier Wänden ab. Man arbeitet zu Hause, unterrichtet die Kinder zu Hause, verbringt seine Freizeit zu Hause. Selbst wenn man vor dem Lockdown wegen der Corona-Pandemie schon gerne Zeit daheim verbracht hat, muss man sich doch ganz schön einschränken. Das Problem von vielen Menschen ist es nicht, dass sie ihr Zuhause nur mit einem "triftigen Grund" verlassen dürfen, sondern dass die schrittweisen Lockerungen der Corona-Beschränkungen so langsam aber sicher nicht mehr nachvollziehbar - gar paradox - sind.

Seit etwas mehr als sechs Wochen gelten die Ausgangsbeschränkungen in Bayern. Bis vor zwei Wochen durften wir lediglich mit "Mitgliedern" des eigenen Hausstandes verweilen. Maximal mit Menschen, mit denen man sowieso zusammenlebt, das Haus verlassen. Und das nur mit einem "triftigen Grund", zu dem auch Sport und Bewegung an der frischen Luft zählen. Inzwischen hat Bayern diese Bestimmung ein wenig gelockert. Seitdem können wir uns beispielsweise mal mit einer Freundin zum Spazierengehen verabreden, mal mit einem Bekannten Joggen und ein anderes Mal mit der Mutter, wenn man nicht eh schon mit ihr zusammen wohnt, Fahrrad fahren. Gleichzeitig noch den eigenen Vater, den Bruder, die Schwester, die Tochter oder den Sohn sehen? Leider verboten! 

Was ist mit der Familie? 

Selbst mit "Sicherheitsabstand" ist es weiterhin nicht erlaubt, sich mit der eigenen Familie an einen Tisch zu setzen und einen Kaffee zu trinken. Im Gegenzug darf man jedoch mit wildfremden Menschen auf Tuchfühlung gehen, wenn man sich durch die - meist total überfüllten - Supermärkte der Region quetscht. Darüber hinaus darf man sich auch wieder in Baumärkten oder anderen Geschäften, die nicht den täglichen Bedarf decken, mit Hinz und Kunz fröhlich auf engstem Raum tummeln. Von nun an können wir außerdem andächtig wieder Gottesdiensten lauschen - natürlich mit Sicherheitsabstand. Befreundete Kinder dürfen sogar in einem Schrebergarten miteinander spielen - keinesfalls aber im eigenen Garten. Wo ist da die Logik?

Nicht falsch verstehen, ich empfinde die Beschränkungen, die getroffen wurden, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen, als sinnvoll. Ich bin auch nach wie vor der Meinung, dass Bayerns Ministerpräsident in dieser Angelegenheit schnell und souverän gehandelt hat. Man sollte auch nicht - wie auf Knopfdruck - zum "normalen" Leben, wie vor der Corona-Pandemie - zurückkehren. Ich wünsche mir lediglich ein wenig mehr Transparenz und Fokus auf das Menschliche. 

Täglich werden neue Forderungen laut. Die Gastronomie solle endlich wieder öffnen dürfen und in der Bundesliga solle schnellstmöglich wieder der Ball rollen. Am besten machen gleich alle Läden, Spielplätze und Fitnessstudios wieder auf. Einige Lockerungsvorschläge finden Beachtung seitens der Politik, Pläne werden in Aussicht gestellt. Doch über Vereinsamung und den fehlenden Familienkontakt fällt kein Wort. Es ist schlichtweg paradox.

Ist das nicht paradox?

Muss ich mich jetzt mit meiner Familie in die Kirche gehen, damit ich sie wenigstens während eines einstündigen Gottesdienstes am anderen Ende der Bank sitzend sehen darf? Oder sollte ich meine Eltern oder Kinder jetzt bitten, sich hinter mir in eine Schlange vor dem örtlichen Baumarkt zu stellen, damit ich sie mal wieder gesehen habe? Ehrlich gesagt verstehe ich es einfach nicht. 

Warum können wir nicht gemeinsam im Garten sitzen? An einem großen Tisch mit Abstand zwischen den einzelnen Stühlen. Warum darf ich, wenn ich mit meinen Eltern spazieren gehen möchte, nicht mit beiden Elternteilen gleichzeitig durch einen Park oder Wald gehen? Warum müsste ich erst eine Stunde mit der Mutter drehen, mich anschließend ohne Umarmung oder Handschlag von ihr verabschieden, um schließlich nochmal mit dem Vater um den Block zu gehen? Nicht zu vergessen, dass man bloß keine Sekunde zu dritt zusammen ist. Ein übereifriger Nachbar könnte einen schließlich für diesen Verstoß denunzieren. Ist das nicht paradox? 

Liegt es etwa daran, dass das Familienleben keinen Einfluss auf die Wirtschaft hat? Daran, dass es dem Staat kein Geld in die Kassen spült, wenn eine Familie gemütlich zusammen sitzt? Familie ist also nicht systemrelevant. Schade, denn lebensrelevant ist sie allemal. 

 

Anmerkung der Redaktion: Dieser Kommentar ist deutlich vor der Pressekonferenz des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder am Dienstag (5. Mai 2020) verfasst und veröffentlicht worden. In der erwähnten Pressekonferenz verkündete Söder neue Lockerungen des Lockdowns. Dazu zählt auch, dass man ab dem 6. Mai 2020 wieder die direkte Familie besuchen darf. Das war zum Zeitpunkt des Kommentarschreibens noch nicht abzusehen. Alles was dazu wichtig ist, können Sie an dieser Stelle noch einmal nachlesen.