Die Diskussionskultur in den sozialen Medien, speziell auf Facebook, hat sich bedenklich verändert. Gerade Beiträge zu Themen wie Asyl oder Flüchtlingspolitik münden in wahren Kommentarschlachten. Ein Plädoyer für mehr Anstand und Vernunft.

Es war im Jahr 2006, als der Werbeguru Jean-Remy von Matt Blogs als Klowände des Internets bezeichnete. Ein Aufschrei ging durchs Land - von Matt musste sich entschuldigen. Das, was von Matt damals also den Bloggern vorwarf, würden heute nicht Wenige sicher gerne auf die sozialen Medien ausweiten.

Nun kann die Lektüre von Klowänden mitunter aufschlussreich, oft sogar auch erheiternd sein. Allein ernst zu nehmen sind die dort veröffentlichten Inhalte nicht - schon der Wahl des Veröffentlichungsortes wegen. Böswillig könnte man also von geistiger Notdurft sprechen. Facebook, Twitter und andere soziale Medien in diese Nähe zu rücken, wäre indes fatal. Denn soziale Medien tragen ein wichtiges Moment in sich: das der direkten, meist ungefilterten Debatte rund um aktuelle Ereignisse und Phänomene. Das bereichert den Austausch, zeigt, je nach Ausprägung der Vehemenz, wie relevant ein öffentliches Thema ist. Somit besitzen wir heute digitale Gradmesser für Aggregatzustände in der Gesellschaft. Trends sind damit klarer abzulesen als es viele Meinungsforschungsinstrumente vermögen. Denn hier wird in Echtzeit und mit großer Reichweite öffentlich, was sonst nur "hinter vorgehaltener Hand" kolportiert wurde.

Moderation zunehmend schwieriger

Dies trifft auch diese Zeitung mit ihrem Nachrichtenportal im Internet und den Ausleitungen in den sozialen Medien. Facebook voran bricht sich eine Entwicklung Bahn, die mittlerweile echtes Entsetzen hervorruft. Es geht, um konkret zu werden, um Flüchtlinge, um Asyl, um die Frage, wie wir mit Menschen umgehen, ja umgehen wollen, die Zuflucht in unserem Land suchen. Postings zu diesem Thema, aber auch Beiträge zu ganz anderen Ereignissen, die damit verknüpft werden, erzeugen seit Wochen wahre Kommentar fluten. Und man darf es nicht beschönigen: Die Stimmen der Aufgeklärtheit, der Vernunft, der Nächstenliebe und der Verantwortung führen einen schwierigen Kampf gegen Populisten, Sarkasten und Hasstreiber. Die Moderation (also auch das Löschen von Kommentaren) wird für uns Journalisten zunehmend schwieriger.

Mehr noch: Die Beherrschbarkeit des Meinungsstreams gelingt nur mit großen Mühen. Denn anders als auf unserem Nachrichtenportal können wir in den sozialen Medien die Kommentarbeiträge vor Veröffentlichung nicht sichten. Facebook sieht diese Funktion schlicht nicht vor. Und so tritt ungefiltert zu Tage, was Krudes, Verachtendes und Abgründiges in manchen Köpfen wabert.

Und dieses Gedankengut kommt nicht etwa aus den Hirnen glatzköpfiger Springerstiefelträger, es kommt zuhauf aus der sogenannten "Mitte der Gesellschaft". Man sieht es ja an den Profilen der Nutzer: ganz normale Menschen, mit ganz normalen Berufen und Hobbys, mit Familie und sozialem Umfeld. Menschen, die von uns Respekt vor der Meinungsfreiheit einfordern, wenn wir ihre unhaltbarsten Äußerungen aus unserer Timeline verbannen. Menschen, die nicht verstehen, dass sie sich moralisch und häufig auch juristisch auf Glatteis bewegen. Die Rederecht für sich einfordern, damit aber nur meinen, weiter ungeschützt hetzen zu dürfen.
Dieses Phänomen, und das ist noch beunruhigender, trifft nicht nur uns und unsere journalistischen Angebote. Es ist im gesamten Land zu spüren. Manche Kollegen haben sich bewusst dazu entschlossen, auch das Übelste des Üblen auf ihren Facebook-Seiten nachlesbar zu lassen, um das erschreckende Stimmungsbild zu dokumentieren.

Dilemma

Wir befinden uns tatsächlich in einem Dilemma. Denn die freie Meinungsäußerung ist und bleibt uns ein hohes Gut, wir leben schließlich davon. Und dies schließt mitunter auch das Unerträgliche ein. Dennoch besitzen wir ein Berufsethos, das auf der journalistischen Sorgfaltspflicht gründet - mit Fakten als Basis. Manövrieren im Ungefähren, Behauptungen, die aufs Hörensagen aufbauen oder - schlimmer noch - auf blanker Demagogie, dürfen unsere Sache nicht sein. Wir haben hier eine historische Verantwortung. Und das gilt auch für den Austausch mit unseren Lesern und Nutzern. Ob in der Zeitung oder online.

Das Netz ist, um dieses Missverständnis endgültig aufzuklären, kein rechts- und moralfreier Raum. Hier haben Gesetze und demokratische Gepflogenheiten zu gelten. Dazu zählt auch der Respekt davor, welche Meinungen wir in Zusammenhang mit unseren Angeboten akzeptieren dürfen. Denn als unabhängiges demokratisches Medium lassen wir uns nicht von denen missbrauchen, die den Konsens des gesellschaftlichen Ausgleichs verlassen haben und nur noch das Recht des Stärkeren einfordern!

Was darf aber Meinung? Zunächst: einen Standpunkt aufzeigen. Natürlich. Meinung darf, ergo, für eine Sache einstehen. Ja. Aber dies bitte mit Anstand. Das, was man früher einmal so schön als "gute Kinderstube" bezeichnet hat, sollte auch für Kommentare auf Facebook gelten. Denn wir erinnern uns: Facebook-Seiten sind keine Klowände, auch wenn manche Mitmenschen versuchen, sie dazu zu machen. Und auch das als Wiederholung: Geistige Notdurft hat keinen Platz bei uns. Und sollte auch aus den Köpfen jener verschwinden, die sie erzeugen. Das kann gelingen. Miteinander. Und mit einem Werkzeug, das schon immer gute Dienste tat: dem Verstand.