Wir brauchen eine Ausgangssperre, und zwar jetzt! Wer die Bilder vom vollgestopften Münchner Viktualienmarkt sieht, wer von "Corona-Partys" liest, wer die exponentiell steigende Kurve der Coronavirus-Infektionen in Deutschland kennt, der muss sich fragen: Habt ihr den Schuss nicht gehört? Ein Kommentar von Rupert Mattgey.

Es war Angela Merkels letzte Warnung. In einer für ihre Verhältnisse außerordentlich emotionalen Ansprache wandte sich die Bundeskanzlerin am Abend des 18. März 2020 direkt an die Bevölkerung. Merkels wichtigstes Anliegen: Bleibt zuhause! Haltet Abstand! Lasst uns gemeinsam die Ausbreitung des Coronavirus in Deutschland eindämmen.

Es gibt einen Grund für Merkels mahnende Worte: Die unsägliche, unfassbare Ignoranz, die Zehntausende Bürger dazu bringt, auf dem Münchner Viktualienmarkt ihren Prosecco zu schlürfen, als wäre nie irgendwas gewesen, am Isarstrand dicht gepackt in der Sonne zu liegen, sich in sozialen Netzwerken zu "Corona-Partys" zu verabreden und sich zu Hunderten zum gemeinsamen Saufen und Tanzen im Stadtpark zu treffen. Als wäre das alles nur ein Spaß. Auch in Franken musste die Polizei bereits zwei "Corona-Partys" auflösen. Man möchte fragen: Habt ihr alle den Schuss nicht gehört?

Ausgangssperre: Weil sie es einfach nicht begreifen

Viele Menschen begreifen offenbar nicht, dass es um mehr geht als das eigene Leben. Es geht um das Leben anderer. Das der Alten und Kranken in diesem Land. Diese Leute begreifen nicht, dass "die Alten und Kranken in diesem Land" direkt nebenan wohnen, im Nachbarhaus, in derselben Wohnung: die alten Nachbarn, der Vater, die Oma, die kranke kleine Schwester. Sie begreifen nicht, wie unglaublich gefährlich ihr rücksichtsloses Treiben ist.

Ja, es mag für viele Jugendliche schwer sein, ihren Freundeskreis für einige Wochen nicht zu sehen. Aber wer sich jetzt nicht an die Regeln hält, bringt sich und andere in Lebensgefahr. Das ist unentschuldbar. Die eigene Freiheit endet dort, wo andere zu Schaden kommen.

Wenn Arroganz auf Ignoranz trifft, ergibt das eine für alle Beteiligten erfahrungsgemäß eher ungute Mischung. Im festen Glauben an die eigene Unsterblichkeit macht man einfach weiter, als sei alles in bester Ordnung. Trotz all der Mahnungen. Trotz all der Einschränkungen und wirtschaftlichen Folgeschäden, die einem doch zu denken geben sollten, sofern man dazu in der Lage ist. Trotz der schrecklichen Bilder aus den italienischen Krankenhäusern, trotz der explodierenden Infektionszahlen, trotz der Ausrufung des Katastrophenfalls in Bayern.

Merkel-Ansprache: "Was will die alte Tante?"

Eines der größten Problem dabei ist vermutlich, dass diese vorwiegend jungen Menschen in ihrer eigenen Welt leben, im Internet würde man, bezogen auf soziale Medien, von einer "Filterblase" sprechen.

In dieser Blase stellt das Coronavirus keine ernst zu nehmende Gefahr dar. Es ist etwas, das einen selbst nicht betrifft. Problematisch auch, dass eine Angela Merkel in diesen Kreisen keinerlei Rolle spielt. Wer glaubt, die Corona-Party-Gänger hätten Merkels Ansprache gebannt verfolgt und seien daraufhin - erfüllt von Reue und Selbsthass - in sich gegangen, dürfte falsch liegen.

Ein Jugendlicher, der die Sendung zufällig mitbekommen hat, dürfte wohl eher gedacht haben: "Wer ist die alte Tante, die ich nicht kenne, und was labert sie da im Alte-Leute-Fernsehen, das ich zum Glück sonst nie schaue?"

Unvernunft in allen Altersklassen und Schichten

Aber um nicht ständig auf der Jugend von heute herumzuhacken: Unvernunft und Ignoranz ziehen sich durch alle Altersklassen und Schichten. Die Münchner Schickeria, die ohne den Prosecco auf dem Viktualienmarkt offenbar entscheidende Lebensqualität einbüßt, ist sicher eher mittelalt. Die Mama, die sich mit ihren Kindern nach wie vor auf dem eigentlich gesperrten Spielplatz mit befreundeten Familien trifft, ist keine unbedarfte Jugendliche. Und aus Italien gibt es Berichte, dass sich viele Alte nach Verhängung der Ausgangssperre in den noch immer geöffneten Tabakläden trafen und sich dort gemeinsam die Zeit mit Rubbellosen vertrieben - der Bürgermeister von Bergamo äußerte in einem Interview mit dem "Spiegel" den Verdacht, dies könne erheblich zur Ausbreitung des Coronavirus unter der älteren italienischen Bevölkerung beigetragen haben.

Die Menschen begreifen es einfach nicht. Viele wollen nicht, manche können nicht. Und deshalb gibt es für Deutschland nur eine Option. Wir brauchen die Ausgangssperre, jetzt. Die Ansprache am 18. März war Merkels letzte Warnung. Sie wird nicht ausreichen. Markus Söder hat Tags darauf eine Ausgangssperre im Kreis Wunsiedel verkündet und angedroht, notfalls eine bayernweite Ausgangssperre zu verhängen, wenn die bisherigen Regelungen weiterhin von großen Teilen der Bevölkerung ignoriert werden. Ich bitte Sie, Herr Söder: Tun Sie's einfach. Verlieren Sie keine weitere Zeit. Ausgangssperre, jetzt!

Von meinem Fenster aus (ich arbeite aktuell von zuhause aus) blicke ich auf eine große Bamberger Bäckerei. Das angeschlossene Café ist bestens besucht. Auf dem Parkplatz davor hat sich gerade eine größere Personengruppe getroffen, wohl zu Kaffee und Kuchen. Man umarmte sich herzlich.

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Hinweis: Es handelt sich um einen Kommentar. Ein Kommentar spiegelt immer eine Einzelmeinung wieder, nicht notwendigerweise die Meinung der gesamten Redaktion.