Die heftigen Proteste in der Türkei gegen die Regierung Erdogan gehen auch Europa etwas an.

Die massiven Proteste auf dem Taksim-Platz in Istanbul erinnern an den arabischen Frühling auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Doch die gesellschaftliche Situation in der Türkei ist eine völlig andere als in den arabischen Ländern. Hier pflegt nicht nur eine schmale Oberschicht einen westlichen Lebensstil, sondern ein breiter Mittelstand. Die Modernisierung der Gesellschaft ist in der Türkei viel weiter fortgeschritten. Die Zeiten einer autoritären Entwicklungsdiktatur, die in Ägypten oder Tunesien gerade erst zu Ende gingen, sind hier schon lange vorbei. Zu dieser Entwicklung hat auch Erdogans Partei beigetragen.

Umso heftiger ist die Reaktion, wenn jetzt versucht wird, die alte kemalistische Elite dauerhaft durch eine islamistische zu ersetzen, die ihren Vorgängern in Sachen Korruption und Gängelung der Zivilgesellschaft in nichts nachsteht. Wieviel Wut sich inzwischen angestaut hat, zeigt sich daran, dass sich die Proteste in kürzester Zeit auf das ganze Land ausgedehnt haben.

Überrascht und düpiert hat diese Entwicklung aber nicht nur Erdogan, sondern auch die Europäer. Sie haben bislang voll auf ihn gesetzt. Bei der Annäherung an die EU stand immer die Wirtschaft im Vordergrund. Defizite in Sachen Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit wurden ignoriert oder heruntergespielt. Doch irgendwann muss die EU Farbe bekennen. Ob die Türkei reif ist für Europa, entscheidet sich nicht nur an Wirtschaftszahlen. Aber wenn die EU - Stichwort Ungarn - nicht mal im eigenen Haus ihre Werte durchsetzen kann, ist hier Skepsis angebracht.