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Wenn die Treppe ins Irgendwo führt


Autor: Diana Fuchs

Kitzingen, Samstag, 15. Dezember 2012

Immer öfter müssen die Gerichtsvollzieher säumige Zahler aus Mietwohnungen vertreiben. Manche von ihnen finden in der Egerländer Straße im Kitzinger Notwohngebiet eine dürftige Bleibe - für (zu) lange Zeit.
Foto: Diana Fuchs


Der Flur hat den Charme einer zugigen, alten Bahnhofskatakombe. Verschmierte Bodenfliesen, Eisengeländer, Schmutz an den Wänden. Plötzlich geht das Licht aus - Zeitschaltung. Nur raus hier, raus aus dem dunklen, muffigen Flur, denkt sich der Besucher. Nur rein hier, heißt es dagegen für immer mehr "zwangsgeräumte" Menschen. Das Kitzinger Notwohngebiet erlebt einen Boom. Es ist kein positiver.

Reiner Herrling ist Obergerichtsvollzieher in Kitzingen. Er kennt die Räumlichkeiten in "der Egerländer". Dutzende Menschen, die ihre Miete schuldig blieben, haben er und seine vier Kollegen schon dorthin gebracht - Männer, Frauen, auch Kinder. "Zehn Zwangsräumungen hatte ich heuer schon. Vier Aufträge liegen noch."

Kein warmes Wasser

Zu Herrlings Einzugsgebiet gehört die Siedlung. Mit ihren zahlreichen Mietblocks ist sie ein sozialer Brennpunkt.

Nicht selten kommt es vor, dass der Gerichtsvollzieher Menschen aus "der Breslauer" oder vom Galgenwasen ein paar Straßen weiter in die alten Kästen der "Egerländer" verfrachtet. Kein Warmwasser, keine Dusche: Es ist quasi die unterste Stufe auf der Sozialleiter.

Allzu schnell gelangt man dort aber nicht hin. Bevor es überhaupt zur Zwangsräumung einer Wohnung kommt, muss das Amtsgericht Kitzingen erst einmal die Klage des Vermieters, also des Gläubigers, prüfen. Hat dieser ordnungsgemäß gekündigt, erhält er vom Richter ein Urteil, das die Räumung legalisiert. Der Gläubiger kann nun Reiner Herrling oder einen seiner Kollegen damit beauftragen, das Urteil zu vollziehen, also den säumigen Zahler aus der Wohung zu befördern - unter Wahrung gewisser Fristen.

"In aller Regel kenne ich die Schuldner schon", stellt Herrling fest. Oft handele es sich um Menschen, die bereits den Offenbarungseid geleistet haben. Das macht ihnen die Suche nach einer neuen Bleibe nicht leichter: "Potenzielle Vermieter bekommen über die Schufa Auskunft über die finanzielle Situation - und lehnen dankend ab."
Wer dennoch ein neues Dach über dem Kopf findet, der zieht meist schon vor der Zwangsräumung aus. Wer nicht, wird durch Herrlings Einsatz quasi obdachlos - und deshalb ein Fall für Jörg Engelbrecht. Dem Leiter des städtischen Einwohnermeldeamtes bleibt nur die Einweisung ins Notwohngebiet. "Es tut mir jedes Mal leid, wenn ich jemanden da reinräumen muss", sagt Herrling. Sind minderjährige Kinder betroffen, schaltet der 48-Jährige das Jugendamt ein. "Bei drei der vier bevorstehenden Räumungen wird das der Fall sein!"

Eine Familie mit Kindern - eines noch ganz klein - , die Herrling im Sommer in die "Egerländer" bringen musste, wohnt dort noch immer. Jörg Engelbrecht bestätigt, dass das Notwohngebiet oft nicht nur eine kurzfristige Lösung ist: "Wir haben Leute, die einen Tag bleiben, aber auch welche, die seit 40 Jahren dort leben."

"Hinter jedem Menschen steckt eine andere Geschichte", ist Herrlings Erfahrung. "Seine" Schuldner ähneln sich jedoch in einem Punkt: Große Werte - die man eventuell pfänden könnte - haben sie nicht. "Pfändung lohnt sich heute fast nie." Stattdessen passen die Gerichtsvollzieher extra gut auf, dass dem Gläubiger nicht noch mehr Ausgaben entstehen als ohnehin schon - satte 13.000 Euro kostet jeder "Mietnomade" den Wohnungseigentümer durchschnittlich, vom Mietausfall über Gerichtskosten bis hin zum gesetzlich verankerten Vorschuss für den Gerichtsvollzieher. "Auf diesen Summen bleiben die Vermieter meist sitzen."

Hund, Pferd, Ziege oder Maus

Wie reagieren die Menschen, die "zwangsgeräumt" werden? "Von ganz ruhig bis ungehalten." Manche haben schon ein bisschen was eingepackt, andere liegen noch im Bett. "Es kommt auch vor, dass sie den Vollstreckungsbescheid, der ihnen zugestellt wurde, aus Angst gar nicht geöffnet haben."
Ein Drittel ist gar nicht daheim, wenn Herrling kommt. Dann kann der Gerichtsvollzieher die Türe aufbrechen, zusammen mit dem Hausmeister oder einem Schlosser. Die Mitarbeiter einer Spedition packen das Hab und Gut zusammen, lagern es ein. Wenn der Besitzer es nach zwei Monaten nicht abgeholt hat, wird es entsorgt.
Sind Tiere vorhanden - Herrling hatte es schon mit Mäusen, Pferden und Schlangen zu tun - , dann werden sie ins Tierheim oder auf einen Hof gebracht.
Reiner Herrling erlebt immer wieder, dass "die meisten Probleme entstehen, weil die Leute in jungen Jahren nicht gelernt haben, mit Geld umzugehen". Kommt dann noch eine gescheiterte Ausbildung oder Berufslaufbahn, eine Scheidung oder der Hang zum Alkohol dazu, sind manche Menschen schnell verschuldet. So geht es die soziale Treppe abwärts.
Diesen Weg will Herrling unterbrechen. Er nimmt sich für "Erstkontakte" viel Zeit. "Immer öfter geraten schon Jugendliche in finanzielle Probleme. Ihnen versuche ich, Kontinuität und den Wert einer Ausbildung beizubringen." Sobald die ersten Schulden abbezahlt sind, motiviere das zusätzlich.
Gibt es etwas, das ihn richtig aufregt? Herrling überlegt nicht lang: "Wenn Leute richtig lethargisch sind, wenn ihnen alles wurscht ist." Mit ein bisschen Elan könne es die Treppe nämlich wieder hoch gehen: "Wenn Menschen sich helfen lassen, kann man viel machen. Das ist das Schöne an meinem Job."
Ob die beiden Tütenträger das wissen? Ein Mann und eine Frau betreten nach Einbruch der Dunkelheit die "Egerländer 24" und huschen rasch den Flur entlang. Bevor man sie fragen kann, sind sie schon verschwunden. Schattenwesen auf der Treppe ins Irgendwo.