Druckartikel: Stalingrad Tag: Briefe aus der Zeit des Untergangs

Stalingrad Tag: Briefe aus der Zeit des Untergangs


Autor: Sabine Paulus

Kitzingen, Samstag, 02. Februar 2013

Vor 70 Jahren ging die Schlacht von Stalingrad zu Ende. Anfang Februar 1943 wurden auf beiden Seiten insgesamt 193.000 tote Soldaten gezählt. Vieles jedoch bleibt im Dunkeln. Selbst gerettete und zurückgekehrte Zeitzeugen haben das Meiste mit ins Grab genommen.
Als SS-Rottenführer Hermann Amendt diesen Feldpostbrief an seine Frau Maria in Kitzingen schrieb, waren hunderttausende Soldaten in Russland gefallen, erfroren, verhungert, vor Erschöpfung gestorben oder in Gefangenschaft geraten. Fotos: Sabine Paulus/privat


Im Alter von 19 Jahren hat Oskar Wittstadt aus Albertshofen seine Füße verloren. Sie sind ihm im Kessel von Stalingrad erfroren. Das war Weihnachten 1942.

In Würzburg hat man Oskar Wittstadt Prothesen angepasst. Er musste wieder laufen lernen.

Hedda Wittstadt verbrachte die Kriegsjahre in Albertshofen, nachdem ihre Heimatstadt Pirmasens wegen der Nähe zur französischen Grenze 1939 evakuiert worden war. Kennen gelernt haben sich Oskar und seine Hedda in einer Gastwirtschaft. Sie flirteten. 1948 heirateten die beiden. Sie waren 60 Jahre ein Paar, davon 57 Jahre lang verheiratet. In all dieser Zeit hat sich der freundliche Mensch, wie ihn seine Witwe bezeichnet, nichts anmerken lassen. "Er hat nie was gesagt über seine Erlebnisse bei Stalingrad", sagt die 85-Jährige. Nur in der Weihnachtszeit wurde Oskar Wittstadt immer besonders still und in sich gekehrt.

Erst 50 Jahre später hat er seine Erlebnisse niedergeschrieben, hat versucht, den Schrecken und die damals erlebte Abscheu durch das Schreiben zu verarbeiten. "Ich hatte viele Kameraden" hat Wittstadt sein Büchlein betitelt. Viele seiner Kameraden sah er sterben, von Granaten und von der unerbittlichen Kälte Russlands zu Tode gebracht.

Wittstadt hat auch seiner Frau Hedda kaum etwas vom Krieg erzählt, weil ihm 1943 ein Offizier das Versprechen abgenommen hatte, niemanden etwas zu sagen. Erst als sich Wittstadt aus dem Werkstattbetrieb seiner Schreinerei zurückzog, konnte er seine Seele etwas erleichtern.

Schwere Gefechte

Er feierte seinen 19. Geburtstag im Feld, im Don-Bogen. Wittstadt und seine Kameraden erfuhren Mitte November 1942, dass die gesamte 6. Armee eingeschlossen ist. Der Befehl lautete, mit einem weiten Bogen nach Westen und Norden eine neue Verteidigungslinie aufzustellen. Diese war zirka 30 Kilometer entfernt von der Don-Brücke. Mit russischen Einheiten gab es schwere Gefechte. Bei jeder Rast mussten die jungen Soldaten mit Feuerüberfällen von Stalinorgeln und Granatwerfern rechnen.

Ein Splitter erwischte Oskar am Oberschenkel. Es war eine reine Fleischwunde, für die es das Verwundetenabzeichen in Schwarz gab.

Es war kalt kurz vor Weihnachten. Alle trugen noch Sommerkleidung. Oskar war auf Posten, die Russen waren nur 150 Meter entfernt. "Früh bei Morgengrauen, am Heiligen Abend, war ich wahrscheinlich etwas eingeschlafen. Ich träumte, meine Füße wären stark erfroren. Dies habe ich bisher noch niemandem erzählt! Nach Ablösung stellte ich fest, dass ich die Füße nicht mehr abrollen konnte und sie mit meinen Stiefeln einen Eisklumpen bildeten. Ich weinte und kam bei unserem Feldarzt an. Der erklärte, dass dies wohl eine lange Krankheit nach sich zieht und gab mir eine halbe Tafel Schokolade."

35 bis 40 Grad minus. Im Bunker auf dem Hauptverbandsplatz wird Weihnachten gefeiert, während nebenan Kameraden sterben. Wittstadt sollte ausgeflogen werden. Am 2. Januar 1943 wäre ein Ausbruch aus dem Kessel Stalingrad noch möglich gewesen, aber die Heeresleitung der 6. Armee verbot es. Hitler befahl, Stalingrad bis zum letzten Mann zu verteidigen.

Oskar wurde nach Salsk geflogen, dann umgefrachtet in einen Zug, der am Asowschen Meer vorbei nach Ostpolen in ein Hilfslazarett fuhr. Oskar wog nur noch 37 Kilogramm, eine Krankenschwester konnte ihn alleine tragen. Weiter ging es in das Genesungslazarett nach Bunzlau. Er musste warten, bis sich das erfrorene Gewebe völlig abgesetzt hatte und die Beine an den Unterschenkeln amputiert werden konnten. "Es war ein großer Schrecken, als ich aus der Narkose aufwachte und nach meinen Füßen suchte. Junge Schwestern weinten mit mir und der Chefarzt versuchte, mich zu beruhigen." In Würzburg bekam Oskar Prothesen für seine Stümpfe.

Ein Offizier nahm ihm das Ehrenwort ab, vom Kampf im Kessel Stalingrad, Ausflug und von Krankheiten sowie Verwundungen nicht zu sprechen. "Dies konnten wir ihm auch zusichern und ich habe über 50 Jahre gebraucht, um Einzelheiten aufzuzeichnen."

Am Samstag, 18. Januar 1997, schaute sich Oskar Wittstadt im Fernsehen den Film "Stalingrad" an. Es gefiel ihm gar nicht, was er da sah. Viele Szenen seien falsch dargestellt, schreibt er in seinem Buch und ergänzt: "Dieser Film und auch die in einigen Städten gezeigte Ausstellung von angeblich vielen Verbrechen unserer Frontsoldaten tragen nicht zur Völkerverständigung bei und sind unwahr."

Was wirklich geschehen ist, können und konnten nur die Zeitzeugen benennen. Die Zahl der am Kampf um Stalingrad Beteiligten, der Eingeschlossenen, der Gefallenen und der in Gefangenschaft Geratenen ist umstritten und lässt sich nicht mehr genau ermitteln. Bekannt ist, dass Adolf Hitler von Juli 1942 an 22 Divisionen mit 364.000 Mann nach Russland geschickt hat.

Die russischen Offensiven begannen am 19. November 1942 mit den Südwest- und Don-Fronten. Am 20. November 1942 begann die Stalingrad-Front. Laut Verpflegungsstärkennachweis der 6. Armee waren am 23. November 1942 etwa 270 000 deutsche Soldaten eingeschlossen.

Teilweise ist das Geschehen aus Feldpostbriefen zu entnehmen, wenn man zwischen den Zeilen lesen kann. Ranghohe Offiziere waren sowieso zur Verschwiegenheit verdonnert. Das zeigt sich bei der Korrespondenz zwischen dem SS-Rottenführer Hermann Amendt aus Kitzingen und seiner Frau Maria. Die Korrespondenzen wurden dem Stadtarchiv Kitzingen am 8. April 2002 vom Inhaber des Tabakwarengeschäfts am Marktplatz als Schenkung übergeben. Er hat sie in dem Abfalleimer seines Ladens gefunden. "Sie wurden von einem Händler auf diesem Wege entsorgt, der die Briefe für seine Zwecke als wertlos erachtete", sagt Doris Badel, die Leiterin des Stadtarchivs.

Am 29. Juli 1942 schreibt SS-Rottenführer Amendt an seine Frau Maria: "Wir sind immer noch am alten Platz und warten." Der Rottenführer war im Deutschen Reich von 1934 bis 1945 der höchste Rang der Dienstgradgruppe der Schutzstaffel-Mannschaften. Als Führungskraft nennt er nie Namen von Ortschaften. Auch auf den Feldpostbriefen steht keine Ortsangabe, nur seine Dienstnummer. Er verrät nur so viel, dass die Operationen wegen des Regens nicht so recht in Gang kommen und es bei der Südfront besser laufen soll.

Während er den Brief schreibt, gibt es einen Luftkampf. Es wird ein Flugzeug abgeschossen, Amendt weiß nicht, ob es ein Russe war, er hofft es. Am 27. Januar 1943 schreibt er: "Wir sind noch am alten Standort; wie lange noch, wissen wir nicht." Er schreibt von schlechten Nachrichten von der Ostfront, die Urlaubsgedanken seien allen vergangen. Es geht ihm wohl nicht gut, der Ischias macht ihm zu schaffen. Denn er schreibt: "Gottlob ist der Januar bald um." Vom 5. Februar 1943 existiert noch ein Brief. Maria Amendt wünscht sich derweil nichts sehnlicher, als dass ihr Mann bald zurückkommen möge, denn sie erwartet das zweite Kind.

19. Februar 1943: "Warte auf Deinen Mann", bittet Hermann Amendt. Dann kommt eine größere zeitliche Lücke. Denn das Datum des nächsten Briefes ist 28. September 1943. "Wir sind seit gestern über den großen Fluss", schreibt Rottenführer Amendt. Den Namen des Flusses gibt er wieder nicht preis. "Der Iwan wird um jeden Preis versuchen drüberzukommen."

Weitere Korrespondenz liegt dem Stadtarchiv nicht vor. Es geht aus den Briefen nicht hervor, wann Hermann Amendt wieder nach Kitzingen zurückgekehrt war. Er starb am 27. Dezember 1955 in Kitzingen.