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Raimo Wilde konnte schon vor der Wende fliehen


Autor: Sabine Paulus

Volkach, Mittwoch, 03. Oktober 2012

Weil er Leistungssportler war, lief bei dem ehemaligen DDR-Bürger, der heute in Volkach lebt, manches anders als bei seinen ehemaligen Landsleuten.
Raimo Wilde, Dachdeckermeister aus Volkach, arbeitete lange Jahre als Trainer in der Handball-Bundesliga.  Foto: S. Paulus


Schon gestern starteten in München die Feierlichkeiten zum heutigen Tag der Deutschen Einheit. Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) würdigte die große Leistungsfähigkeit des wieder zusammengewachsenen Landes. Eine Mauer in den Köpfen der Menschen sehe er "überhaupt nicht mehr", sagte Seehofer. Er sprach auch von "Anpassung" in den vergangenen 22 Jahren.

Einer, bei dem dieser Prozess unkompliziert verlaufen ist, ist Raimo Wilde aus Volkach. Dank seines Sports, des Handballs, war der gebürtige Sachse schon vor der Wende ein gefragter Mann im Westen.


Geboren wurde er 1964 in Grimma. Aufgewachsen ist er in einem Vorort von Leipzig. Mit sechs Jahren kam er in das Sportfördersystem der DDR. Er konzentrierte sich ganz auf das Handball spielen, spielte in Leipzigs Auswahlmannschaft und später in Aue. Mit 18 Jahren trat er das erste Mal für Wismut Aue in der 1. Liga an.
Den großen Exodus seiner ehemaligen Landsleute im September 1989 hat Raimo Wilde erlebt, als er schon in der Bundesrepublik lebte. Als Profi-Handballer und Leistungssportler der DDR durfte er zu Ländervergleichen mit der Mannschaft in den Westen reisen. Vor dem Grenzübertritt wurden den Sportlern die Reisepässe übergeben und am Ende der Reise wieder eingesammelt. Einmal jedoch wurde das Einsammeln vergessen - nach der Fahrt zum Ländervergleich in Dortmund.

Das war 1988, es war Wildes Sprung nach Westdeutschland.

Die Dortmunder hatten signalisiert, dass sie den Spitzenhandballer aus der DDR wollen.

Er überlegte nicht lange. Er hatte ja den Pass, sein Ticket in die Welt jenseits des Ostblocks.


Wilde hat sich kurz mit seiner damaligen Frau, die in Zwickau studierte, besprochen und in seinem Förderbetrieb in Zwickau abgemeldet, das heißt, gekündigt. Dann nahm er seine Sporttasche mit dem Reisepass darin und marschierte über die Grenze. "Mir haben schon die Knie gezittert, aber das war's dann", beschreibt Wilde mit schlichten Worten diesen bedeutenden Moment.

Ansonsten hat er keinem Menschen etwas gesagt.


Vor allem seinen Eltern nicht. "Die hätten Schwierigkeiten bekommen", schätzt Wilde. Seine Mutter war Rektorin, sein Vater Ingenieur eines großen Maschinenbaubetriebs.
Als Wilde Ostern 1989 mit seinem Pass der BRD und mit einem Cabriolet zum ersten Mal wieder zu seiner Familie in die DDR fuhr, gab es keine Probleme an der Grenze. Aber Wilde hatte das Gefühl, "als würde ich von einem Farbfilm in einen Schwarz-Weiß-Film fahren".

Wilde ist Vollblut-Handballer. Deswegen nahm ihn sofort der TV Marktsteft unter Vertrag. Auf diese Weise hat er im Westen gleich Geld verdienen können.

Den Fehler, den viele DDR-Bürger nach ihrer Flucht oder Ausreise in die Bundesrepublik gemacht haben, vermied Wilde: Er wartete nicht darauf, dass sich ihm auf irgendeine Weise das verheißene Schlaraffenland offenbarte, sondern nahm sein weiteres Leben selbst in die Hand.

In Volkach fand er eine Wohnung. Er nahm eine Arbeitsstelle als Dachdeckergehilfe an und wirkte als Trainer und Spieler 15 Jahre lang beim TV Marktsteft. Er sagt, er habe das Training nach "DDR-Methoden" durchgezogen, also höchst leistungsorientiert. "Im Westen wurde vieles lax genommen, das habe ich geändert."

Dann lief einiges parallel. 1995 hat Raimo Wilde seine Dachdecker-Firma gegründet, ist Vater geworden, baute ein Haus mit Betriebsgebäude und arbeitete als Trainer in der Handball-Bundesliga für den TV Großwallstadt, den Bergischen HC und den HSC Coburg. Während dieser Zeit kümmerte er sich so gut es ging um seine Dachdecker-Firma. 1997 holte er seine Eltern nach Volkach, seine Schwester blieb in Leipzig.

Er ist so gut wie nie zu Besuch in der Ex-DDR. "Es wird immer noch viel gejammert dort, das will ich mir nicht antun", lautet seine Begründung.



Ministerpräsident Seehofer ist das wohl bewusst. Er rief die Bürger in Deutschland auf, den 3. Oktober zu feiern: "Das Allerwichtigste ist, dass die Bürger diesen 3. Oktober zu ihrem nationalen Feiertag mit frohem Herzen machen - dass man mal einen Tag nicht jammert, nicht nölt, sondern sich freut über die Lage unseres Landes."