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Keine Not? Warum viele Eltern die Notbetreuung in Schulen nicht nutzen


Autor: Von Julia Volkamer

Kitzingen, Donnerstag, 11. Februar 2021

Eltern und Schüler zwischen Angst und Unwissen. Lehrerin und Elternvertreter berichten.
Die Klassenzimmer bleiben auch weiterhin leer – zumindest wenn es nach Ministerpräsident Markus Söder geht. Im Landkreis Kitzingen kommt dazu von Lehrer- und Elternvertretern Verständnis, aber auch Kritik.


In den Klassenzimmern herrscht gähnende Leere, die Stille ist fast schon gespenstisch. Vereinzelt hört man eine Kinderstimme, das monotone Summen von digitalen Endgeräten oder einmal ein Lied, abgespielt vom Band. Ansonsten kann von einer lebendigen Schulfamilie nicht die Rede sein. Das Leben spielt sich in der eigenen Familie ab, die Notbetreuung scheint für viele keine Alternative zu sein. Doch woran liegt das?

Die Gründe liegen sowohl für Lehrer- als auch für Elternvertreter auf der Hand. Sabine Huppmann ist Grundschullehrerin, Mutter von zwei Kindern und Vorsitzende des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes (BLLV) im Landkreis Kitzingen. „Es hat schon seinen Sinn, dass man die Gruppen möglichst klein hält“, findet die Pädagogin. Das Infektionsgeschehen hält sie für den entscheidenden Grund, dass die meisten Eltern ihre Kinder zu Hause beschulen. Sie weiß von einem Corona-Fall in der Notbetreuung einer Landkreis-Grundschule. Die Infektion des Kindes wurde am Nachmittag bekannt, am nächsten Tag seien genau null Schüler in der Notbetreuung gewesen. „Die Angst vor Ansteckung ist eben immer noch sehr groß.“

Notbetreuung in Schulen kaum genutzt: Angst vor Ansteckung sehr groß

Helmut Celina will das nicht als Hauptgrund dafür gelten lassen, dass vor allem berufstätige Eltern ihre Kinder nicht in die Notbetreuung schicken. Als Sprecher des Landes-Eltern-Vereinigung für Gymnasien in Unterfranken liegt für ihn das Problem darin, dass die Notbetreuung eben nur genau das ist, was der Name sagt: eine Betreuung. „Die Kinder sitzen zwar in der Schule, machen aber keinen Unterricht.“ Die Klass- oder Fachlehrer seien in den seltensten Fällen vor Ort, die Schüler hätten nicht immer einen Ansprechpartner, den sie bei Fragen ansprechen könnten. „Viele Eltern denken sich: Da mache ich doch lieber Homeschooling mit meinen Kindern, da kann ich wenigstens noch ein bisschen helfen. Auch wenn es anstrengend ist.“ In den Schulen fehle das Personal, um sowohl ordentlichen Distanzunterricht zu gestalten als auch die Kinder in der Notbetreuung fachgerecht zu unterstützen. In manchen, vor allem weiterführenden Schulen sei das gut gelöst, man habe Zusatzkräfte wie zum Beispiel Lehramtsstudenten gewinnen können, die sich in ihrem Nebenjob um die Schüler kümmern. „Es gelingt aber nicht überall.“

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Das weiß auch Sabine Huppmann. „Es liegt nicht an der Motivation der Lehrer“, sagt die Grundschulpädagogin, die derzeit eine vierte Klasse betreut. „Der Lehrermangel trifft uns jetzt in voller Härte.“ In der Notbetreuung säßen zehn Kinder aus verschiedenen Jahrgangsstufen in einem Raum mit einem Lehrer – wie solle da eine individuelle Schulaufgabenbetreuung möglich sein? „Die Notbetreuung ist bei weitem kein Unterricht oder gar Nachhilfe, sondern einfach nur eine Betreuung.“

„Kommunikation heißt nicht, Ministerschreiben weiterzuschicken.“
Helmut Celina, Landeselternvereinigung Bayern

Die Lehrkraft kennt in der Regel die Unterrichtsinhalte der verschiedenen Stufen nicht und könne dementsprechend auch nicht immer weiterhelfen.

Gleichzeitig Notbetreuung und Distanzunterricht - das funktioniert nicht

Gleichzeitig in der Notbetreuung sitzen und am Distanzunterricht teilnehmen funktioniere aber auch nicht. Bei Online-Klassenkonferenzen bräuchte jedes Kind ein Endgerät, und dann würde es extrem unruhig, weil ja jeder Schüler anderen Unterricht hat und sich auch einbringen und mitreden soll. Da fehle es einfach an den technischen Mitteln – und sei es nur ein stabiles W-LAN oder Kopfhörer.

Hier sieht auch Helmut Celina großen Nachholbedarf. „Der Schüler müsste seinen eigenen Laptop mit in die Schule nehmen, um dem Distanzunterricht seiner Klasse zu folgen. Dann muss er vielleicht etwas ausdrucken, hat aber keinen Drucker zur Verfügung.“ Wird eine Schulstunde live übertragen, streikt womöglich das Netz und die Übertragung sei unterbrochen oder ohne Ton. „Das sind alles Kinderkrankheiten, die man längst hätte ausmerzen können.“

Grundsätzlich sieht er das Kulturministerium, aber auch die Schulen selbst in der Pflicht, die Situation für alle Seiten zu klären. „An der Kommunikation hapert es gewaltig“, sagt Helmut Celina. „Kommunikation bedeutet nicht, seitenlange Schreiben zu versenden, in denen erst um den heißen Brei herumgeredet wird und am Ende steht: Bitte gehen Sie verantwortungsvoll mit der Nutzung der Notbetreuung um.“

Bildungsgerechtigkeit in Gefahr: "Wir verlieren ein Drittel der Schüler"

Er ist sicher, dass manche Eltern gar nicht wissen, dass sie ihre Kinder schicken können. „An vielen Schulen wird das nicht klar kommuniziert. Kommunikation heißt auch nicht, Ministerschreiben weiterzuschicken.“ Sabine Huppmann gibt zu, dass es aus Lehrersicht positiv sei, wenn die Zahlen der Kinder in der Notbetreuung klein gehalten werden. Allerdings hat sie auch Verständnis für all diejenigen, die dieses Angebot nutzen – sie sitze ja selbst zwischen den Stühlen. „Ich weiß nicht, was ich mir für die nächsten Wochen wünschen soll. Der Distanzunterricht ist wahnsinnig anstrengend für alle Beteiligten.“ Am liebsten wäre es ihr, wenn sie einfach wieder in die Schule gehen und Präsenzunterricht halten könnte – aber so einfach sei das eben nicht.

Der Wechselunterricht könne zumindest für die Kinder wieder ein Stück Normalität und Kontinuität bringen, für die Lehrer bedeute er noch einmal Mehraufwand. Schön wäre es aus ihrer Sicht gewesen, wenn die Faschingsferien nicht entfallen wären. „Familien und Lehrer bräuchten sie so dringend, um einfach einmal durchzuschnaufen.“ Helmut Celina schwebt eine ganz andere Art von Erleichterung vor. „Das Kultusministerium muss endlich die Aufgabe der Koordinierung übernehmen“, sagt der Hochschuldozent, der zusätzlich in der Erwachsenenbildung tätig ist. Dabei denkt er an ein dauerhaftes Konzept, mit dem man sich nicht mehr nur von Woche zu Woche hangeln kann. Ein Stufenkonzept, das vorsieht, „was passiert, wenn...“.

Zudem solle man den Lehrern Inhalte an die Hand geben, die sie in ihrem Unterricht nutzen können. „Zu jedem Punkt im Lehrplan müsste es ein Erklärvideo oder Bildmaterial oder Arbeitsmaterial geben, mit dem jeder Lehrer arbeiten kann.“ So könne viel Zeit eingespart werden, die in die Arbeit mit den Schülern fließen könnte. Celina geht sogar so weit, dass er „die Bildungsgerechtigkeit in Gefahr“ sieht. „Wir verlieren in diesem Schuljahr ein Drittel der Schüler“, warnt der Familienvater, dessen jüngste Tochter kurz vor dem Abitur steht. Das Einstampfen des laufenden Schuljahres sieht er in diesem Zusammenhang allerdings auch nicht als die richtige Lösung an. „Das wäre den zwei Dritteln gegenüber unfair, die gut mitkommen.“ Er begrüßt die Entscheidung, den Schülern die Möglichkeit zu geben, eine Klasse zu wiederholen, ohne dass dieses Jahr auf die Höchstausbildungsdauer angerechnet wird. „Aber auch das ist den vielen Eltern gegenüber noch nicht klar kommuniziert worden.“

Hätte Sabine Huppmann noch Wünsche frei, würde sie gerne die Vorgaben für den Schulübertritt reformiert sehen. „Diese Situation ist die Chance, den Übertrittswahn zu beenden“, sagt sie und möchte den Eltern mehr Mitspracherecht bei der Wahl der weiterführenden Schule ihres Kindes zugestehen. Mehr Mitsprache und Gestaltungsfreiheit wünscht sie sich auch für sich und ihre KollegInnen. „Vielleicht wären wir schon weiter, wenn uns das Ministerium im Frühjahr nicht so viele Steine in den Weg gelegt hätte.“ In der Lehrerschaft hätte es viele Ideen gegeben, die aber unter dem Vorwand des Datenschutzes oder der Kosten von höherer Stelle abgewiegelt worden seien. „Einfach mal machen lassen“ müsse die Devise sein. Und Kompromisse für alle finden. So unterschiedlich die Lösungsansätze, so einig sind sich Lehrer- und Elternvertreter in der Zielsetzung. „Wir müssen uns als Gesellschaft ein bisschen mehr zusammenreißen“, findet Helmut Celina. Lehrer, Schüler und Eltern. Mit oder ohne Notbetreuung. Nur dann kann in den Schulen des Landkreises bald wieder das Leben Einzug halten. Fotos: Walter Braun, Felix Kirschner