Zumindest nicht ohne Liebe
Autor: Diana Fuchs
Wiesentheid, Freitag, 15. Dezember 2017
"Manchmal habe ich totale Angst" - Was ein MS-Patient im Rollstuhl erlebt
Sevgi heißt übersetzt Liebe. Und tatsächlich: Die Liebe ist Peter Kunkel geblieben. Aber sonst? Den Mann aus dem Fotoalbum, den zupackenden, braun gebrannten Kfz-Mechaniker, den gibt es nicht mehr. Jetzt ist da ein Rollstuhlfahrer, der zu viel Zeit zum Grübeln hat und zu wenig Geld für ein sorgenfreies Leben. Ein Mann, der nachts in einem Bett schläft, das ihm seine Frau Sevgi aus Holzpaletten und einer geschenkten Matratze selbst gebaut hat. Ein 54-jähriger Multiple-Sklerose-Patient, Pflegegrad 3, der Angst vor der Zukunft hat.
Die Fenster des hübschen Bruchsteinhauses in der Wiesentheider Erweinstraße sind mit Wedeln und kleinen, silbernen Kugeln geschmückt. Von außen ahnt niemand, dass hinter den Zweigen und dem Glas zwei Menschen leben, die schon mehrfach am Verzweifeln waren. Wie es so weit kommen konnte? Die gelernte Schneiderin Sevgi und ihr Mann, ein gebürtiger Gerolzhöfer, verstehen es selbst nicht. Sie hatten ein gutes Leben, die Türkin und der Franke, die seit 23 Jahren ein Paar sind.
Kennen gelernt haben sich die beiden in Sevgis Heimat. Sie heirateten, zogen nach Deutschland und wohnten viele Jahre lang in einem schmucken Haus in Volkach. „Vor 17 Jahren habe ich Augenprobleme bekommen – damit hat alles angefangen. Nach allerhand Untersuchungen haben die Ärzte MS diagnostiziert“, erzählt Peter Kunkel. „Anfangs hat mir die Krankheit gar nicht so viel ausgemacht. Ich habe trotzdem gearbeitet, in verschiedenen Berufen, zum Beispiel im Sicherheitsdienst der US-Army in Kitzingen.“ Doch die Autoimmunkrankheit ist tückisch. MS hat viele Gesichter und ist nicht heilbar. „Letztes Jahr konnte ich plötzlich gar nicht mehr laufen und brauchte einen Rollstuhl.“
Das war nicht das einzige Unglück. Eine zugesagte Wohnung, bei deren rollstuhlgerechter Renovierung Sevgi geholfen hatte, stand dann doch nicht zur Verfügung – Eigenbedarf hieß es. „Was schief gehen konnte, ging schief.“ Die Kunkels beschlossen, ihr Hab und Gut in einer Scheune in Haidt unterzustellen und zusammen die türkischen Verwandten zu besuchen. Im Herbst 2015 fuhren die beiden mit dem Auto in Sevgis Heimat Anatolien.
Ein halbes Jahr verbrachten sie dort, dann lief das Visum ab. Die Rückkehr nach Deutschland war schwieriger als gedacht. Zunächst wohnten die beiden bei Freunden, „aber denen wollten wir natürlich auch nicht zur Last fallen“. Als sich partout keine rollstuhlgerechte Wohnung fand, hauste das Paar einige Wochen in einem Gartenhäuschen am Volkacher Main, ohne Heizung, fließendes Wasser und Strom. Im Herbst 2016 übernahm das Jobcenter den Umzug in die Wiesentheider Erweinstraße. Im Oktober konnten die Kunkels hier einziehen.
Beim Umzug lernten sie Volker Lang kennen, den Geschäftsführer der Dienstleistungsfirma SDA GmbH Kitzingen, die das Mobiliar der Kunkels von Haidt nach Wiesentheid brachte. Lang sah gleich, dass die Wohnung nicht barrierefrei war. Doch die Kunkels, die neben der Erwerbsminderungsrente aktuell Arbeitslosengeld II und Pflegegeld beziehen, richteten sich so gut es ging in Wiesentheid ein. Allerdings war schon die Eingangstreppe für Peter Kunkel eine Herausforderung. Auch innen konnte und kann er sich mit seinem Rolli nicht frei bewegen.
Die Schlafzimmertür ist zu eng zum Durchfahren, also nächtigt der 54-Jährige im Wohnzimmer, auf einem Bett, das Sevgi gebaut hat: aus Paletten und einer Matratze, auf die sich der MS-Patient mit Hilfe seiner Frau hinaufwuchtet. „Mein linkes Bein ist inzwischen so gut wie tot“, sagt Peter Kunkel. „Im rechten hab‘ ich aber noch ein bisschen Kraft.“