Druckartikel: Werden wir immer dümmer?

Werden wir immer dümmer?


Autor: Diana Fuchs

Kitzingen, Mittwoch, 17. Oktober 2018

Ein Feuerwehrmann will die Menschen wachrütteln.
Wie geht Überleben 4.0? Markus Ungerer, Feuerwehrkommandant, Autor und Redner, hat sich profunde Gedanken gemacht, wie man dem gesunden Menschenverstand (wieder) auf die Sprünge helfen kann. FOTO Diana Fuchs


„Die Menschheit wird immer unfähiger, sich selbst zu helfen.“ Der Mann, der das sagt, ist professioneller Helfer in der Not. Seit den 80er Jahren ist er aktiver Feuerwehrmann. Vom Angriffstrupp über den Jugendwart bis zum Leiter der Feuerwehr – fast keine Position, die Markus Ungerer noch nicht innehatte. Heute, als Chef der Kitzinger Wehr, begegnet der 51-Jährige noch immer Mitmenschen, bei denen es brennt – oder halt auch nicht.

Ungerer sagt: „Wir werden nachts um drei Uhr zu Leuten bestellt, die ihren Hauptwasserhahn nicht zudrehen können. Es wird immer schlimmer.“ Egoismus und Unkenntnis bilden eine gefährliche Symbiose, findet Ungerer. Gegen diese Symbiose will er anschreiben und ansprechen. „Denn wenn wir nichts tun, wenn die Entwicklung so weitergeht, verlernt die ?Krone der Schöpfung?, wie das echte Leben funktioniert.“

Schon in den 90er Jahren veröffentlichte Ungerer zunächst Artikel in Fachzeitschriften, dann Fachbücher über den Themenkomplex Brandschutz sowie auch Kinderbücher und Krimis – bei Letzteren wird natürlich mit Feuer gemordet. Zu Beginn des neuen Jahrtausends begann er zudem, Vorträge auch außerhalb der Feuerwehrwelt zu halten. Mittlerweile hat er seine Vortragstätigkeit professionalisiert. Mit „Überleben 4.0“ bietet er quasi Lebenshilfe an. In einer Zeit, in der die Abhängigkeit von Technik immer mehr zunimmt und gleichzeitig das eigenverantwortliche Handeln „aus der Mode zu kommen scheint“, will Ungerer den Menschen Mut machen. Mut, wieder sachbezogen und zügig Entscheidungen zu treffen „und nicht nur auf Geld, Macht und Wählerstimmen zu schielen“. Dafür kämpft er an drei Fronten gleichzeitig: als aktiver Feuerwehrmann, Autor und Redner.

Der Stadtbrandinspektor nennt konkrete Beispiele für die Veränderungen in der Gesellschaft, die er anprangert. Nach einem Starkregen erlebte er Folgendes: „Wir waren per Notruf alarmiert worden. Und was kriegen wir zu sehen: Vater und Sohn sitzen im Wohnzimmer vor dem Fernsehgerät – und die Mutter kämpft im Keller erfolglos mit ein paar Eimerchen gegens Hochwasser. Ich habe gedacht, ich seh? nicht richtig.“ Ungerer wusch den Männern den Kopf und brach den Einsatz ab.

Andernorts wurde das Team ebenfalls wegen einer Überflutung gerufen. „Eine Rohrleitung war geplatzt, direkt am Gewinde. Die Überschwemmung hätte ganz einfach vermieden werden können, wenn jemand mal den Hauptanschluss zugedreht hätte.“ Offensichtlich wusste aber keiner der Bewohner, dass es einen solchen gibt beziehungsweise wo er sich befindet. „Es ist unfassbar“, sagt Markus Ungerer dazu, „aber heutzutage ist die Ignoranz unglaublich. Ständig wird erwartet, dass schon irgendjemand da ist, der?s richtet. Die Leute rufen die 112 wegen nichts und wieder nichts an!“

Tatsächlich steigen die Einsatzzahlen der Rettungskräfte. Die Integrierte Leitstelle in Würzburg, die zuständig ist für die Stadt und den Landkreis Würzburg sowie die Landkreise Main-Spessart und Kitzingen mit insgesamt einer halben Million Einwohnern, listet folgende Zahlen auf: Im Jahr 2012 leistete der Rettungsdienst 115.331 Einsätze, die Feuerwehr kam auf gut 4.723. Ein Jahr später waren es 120.466 Rettungsdienstfahrten und gut 5.000 Feuerwehreinsätze. 2017 verzeichnete die ILS über 128.200 Rettungsdienst-Einsätze, die Feuerwehr musste 5.200 Mal ausrücken.

Sven Appold, Leiter des Rettungsdienstes beim Bayerischen Roten Kreuz in Kitzingen kann diesen Anstieg der Rettungsdienst-Einsätze auch für den Landkreis Kitzingen nur bestätigen. Während es 2012 noch 14.276 Einsätze waren, verzeichnete das BRK 2017 insgesamt 17.426 im Landkreis. „Ein nicht unwesentlicher Teil davon sind tatsächlich keine ?echten? Notfälle“, stellt Appold fest. Gründe dafür gebe es sicher viele. „Einer davon ist nach wie vor die Unkenntnis in der Bevölkerung, wann welche Nummer zu wählen ist.“ Im Notfall, ganz klar, ruft man die 112 an, vorwahlfrei und in ganz Europa. „Sind Sie krank und Ihr Hausarzt hat zu, dann ist der ärztliche Bereitschaftsdienst der kassenärztlichen Vereinigung richtiger Ansprechpartner“, erklärt der Rettungsdienstleiter. Dieser ist bundesweit unter der Rufnummer 116117 zu erreichen. Natürlich muss man da auch einmal warten (können): „Ungeduld ist aber keine Krankheit und noch lange kein Notfall.“

Markus Ungerer zweifelt am gesunden Menschenverstand vieler Bürger. „Wenn ich ein Haus am Hang baue und oberhalb befindet sich ein Acker, dann kann ich mir denken, dass ein Starkregen zum Problem werden und der Acker unter Umständen mal im Wohnzimmer vorbeischauen könnte“, meint der 51-Jährige mit unüberhörbarem Sarkasmus. „Früher hätten die Menschen in solchen Fällen ganz automatisch Vorsorge getroffen.“

Auch Nachbarschaftshilfe stirbt vielerorts aus, meint der Stadtbrandinspektor. „Der Nachbar der Überfluteten hat sich hingestellt und gegafft. Und ungefragt zum Besten gegeben, dass bei ihm so etwas nicht passieren könnte, er habe einen eigenen Ablaufschacht.“ Eine halbe Stunde später sei es für just diesen Nachbarn allerdings sehr peinlich geworden. „Plötzlich stand sein Keller auch unter Wasser. Er hatte vergessen, den Abfluss aufzudrehen.“

Nicht nur Erschließungsanlagen stellen manche Menschen offenbar vor unlösbare Probleme. „Wir hatten in jüngster Zeit Einsätze, weil Leute einen Grill mit in die Wohnung genommen haben; die haben sich tatsächlich über die Rauchvergiftung gewundert. Andere wussten nicht, dass man ab und zu mal den Fettfilter im Dunstabzug reinigen muss, weil er sonst Feuer fangen kann. Wieder andere haben sich blind aufs Navi verlassen und endeten in einem Graben.“ Markus Ungerer schüttelt beim Erzählen den Kopf: „Man hat das Gefühl, dass die Menschen kein überliefertes Wissen mehr haben.“

Ungerer fragt sich oft, wohin das alles führen wird. Was wird passieren, wenn die Menschheit sich immer mehr der Technik anpasst statt, wie früher, ihrer jeweiligen Umwelt? Was wird mit Menschlichkeit, Achtung, Aufmerksamkeit geschehen? Und mit der Selbstverantwortung jedes Einzelnen? „Wir agieren ganz oft viel zu wenig empathisch und viel zu bürokratisch. Wenn etwas passiert, heißt es sofort: ?Das hat mir keiner gesagt?.“ Aber muss einem denn wirklich alles gesagt werden? Kann man sich manches nicht selbst erschließen?

Diese Überlegungen veranlassten Markus Ungerer dazu, ein „Plädoyer für sicheres Handeln“ zu erarbeiten, einen Impulsvortrag. „Charles Darwin war mir in den Sinn gekommen: Nicht der Intelligenteste oder der Stärkste überlebt, sondern der, der sich am besten an Veränderungen anpassen kann.“ In diesem Sinn begann der Feuerwehrmann Anfang 2017, „Überleben 4.0 – wird Darwin gewinnen?“ zu schreiben. Das Werk wurde zu einer Art „Zehn Gebote fürs echte Leben“. Markus Ungerer fungiert darin als Impulsgeber für die Zukunft.

„Ich will niemanden belehren, sondern vielmehr zum Nachdenken anregen“, sagt der schreibende Feuerwehrkommandant. Mit Humor versucht der Redner Ungerer, seine Zuhörer zum „Führen durchs Feuer“ zu befähigen, ihnen Mut zu machen, Entscheidungen zu treffen. Und selbst zu denken.

Markus Ungerer findet, dass es höchste Zeit ist, die Gesellschaft aufzurütteln. „Wir sind dabei, Grundfähigkeiten zu verlieren, die Jahrtausende lang überliefert wurden. Wir befinden uns in einer wirklich gefährlichen Situation.“

Markus Ungerer

Einsatzkraft: Mit 17 Jahren trat Markus Ungerer zusammen mit einigen Kumpels der Jugendfeuerwehr Kitzingen bei. Mittlerweile verfügt er über mehr als 30 Jahre Erfahrung im Einsatzdienst in öffentlichen, betrieblichen und militärischen Feuerwehren. Tausende von Einsätzen liegen hinter dem Kreisbrandmeister und Brandschutzbeauftragten seiner Heimatgemeinde Kitzingen, der zunächst stellvertretender Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr Kitzingen war und seit 2013 Kommandant ist. Ungerer ist verheiratet und hat zwei Töchter.

Autor: Schon seit 20 Jahren schreibt er Publikationen für Fachverlage, er absolvierte in Berlin ein Aufbaustudium zum Fachjournalisten (DFJS). In den vergangenen Jahren ist das Schreiben für ihn immer wichtiger geworden. Mit der Krimiserie „Fogos“ und „Rakontoj“ hat er seine Fachtexte durch erzählende Texte erweitert.

Redner: Seit zehn Jahren hält Ungerer Vorträge und Seminare für internationale Unternehmen und Behörden, internationale Coachings für Feuerwehrangehörige. Ab 2019 sollen Infotainment-Vorträge („Showvorträge“) ein weiterer Schwerpunkt seiner Arbeit werden.