Die Zahl der Betroffenen in Deutschland steigt. Wer macht für sie das Kreuz?
Am Sonntag sind mehr als 61 Millionen Wähler aufgerufen, den neuen deutschen Bundestag zu wählen. Etwa drei Millionen Erstwähler sind dabei. Aber auch rund 13 Millionen, die älter als 70 sind. Die meisten von ihnen sind geistig voll auf der Höhe. Aber nicht alle. Die Zahl der Demenzkranken steigt. Wer macht für sie die Kreuzchen?
Etwa 1,6 Millionen Demenzkranke leben derzeit in Deutschland
Auch Menschen mit Demenz dürfen an Wahlen teilnehmen und ihre Stimme abgeben – so heißt es in einer Stellungnahme der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. Sie würden nur dann aus dem Wählerverzeichnis gestrichen, wenn ein Betreuungsgericht eine umfassende rechtliche Betreuung anordnet. In der Praxis passiert das eher selten. Rainer Beckmann, Pressesprecher des Amtsgerichtes Würzburg und Betreuungsrichter, schätzt, dass es bundesweit rund 100 000 solcher Fälle gibt – alle anderen Demenzkranken dürfen wählen.
In Deutschland leben zurzeit knapp 1,6 Millionen Demenzkranke, Tendenz steigend. Jedes Jahr kommen nach Schätzungen rund 300 000 neu Erkrankte dazu – während deutlich weniger sterben. Etwa die Hälfte der Betroffenen hat eine schwere bis schwerste Demenz. Sie sind nicht mehr entscheidungsfähig. Wie kann da eine Bundestagswahl funktionieren?
Heimbewohner brauchen immer wieder mal Unterstützung
Elisabeth Müller ist die Leiterin des Seniorenheims St. Elisabeth in Kitzingen. Von den 84 Heimbewohnern haben etwa 60 bis 65 Prozent eine Demenz. „In ganz unterschiedlichen Ausprägungen.“ Haben die Angehörigen eine rechtliche Betreuung erwirkt, wird die Wahlkarte an sie weitergeleitet. Ansonsten erhalten die Bewohner ihre Wahlunterlagen ausgehändigt. Sie können sich – falls Fragen auftauchen – von den Mitarbeitern des Sozialdienstes helfen lassen. Das passiert immer wieder mal. „Die Schrift ist so klein, dass sie von den meisten Bewohnern gar nicht gelesen werden kann“, sagt Müller. Auch beim Briefwahlverfahren brauchen manche Bewohner Hilfe, etwa beim Frankieren und Verschicken des Umschlages. „Wir nehmen aber null Einfluss“, betont Müller. „Wir müssen uns ja rechtlich konform verhalten.“
Tatsächlich drohen bei einer nachgewiesenen Wahlmanipulation empfindliche Strafen. Freiheitsstrafen von bis zu fünf Jahren können ausgesprochen werden. Nur: Wo kein Kläger, da kein Richter. In der Praxis ist es kaum nachvollziehbar, ob eine Vertrauensperson tatsächlich im Sinn des Demenzkranken entscheidet – oder das Kreuz nach eigenem Gutdünken setzt.
Der Pflegebedürftige wird nach der Überzeugung von Angelika Graf nicht immer gefragt, ob er wählen will. Die Bundesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft 60 plus der SPD behauptete vor der letzten Bundestagswahl gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass Pfleger, Pflegerin oder Heimleitung häufig für den Bedürftigen wählten und sprach sogar von Missbrauch. Wahlhelfer hätten bei den Bündeln, die nach der Briefwahl aus den Pflegeheimen kommen, mitunter erstaunliche Beobachtungen gemacht: In Caritas-Heimen gewann die CDU mit großen Vorsprung, in Heimen der Arbeiterwohlfahrt die SPD.
Wahlrecht: ja – Eigene Willensentscheidung: nein
Das „Haus der Pflege im Kitzinger Land“ in Sickershausen ist weder CSU- noch SPD-nah. Hier leben derzeit 79 Menschen. 17 von ihnen haben einen amtlich bestellten Betreuer. „Das sind in der Regel Angehörige und Berufsbetreuer“, erklärt der Leiter des Hauses, Helmut Witt. Im Prinzip hätten alle anderen Bewohner „nur“ Vollmachten für bestimmte Lebenssituationen erteilt. In der Regel gelten die in Vermögensfragen, bei der Gesundheitsfürsorge und natürlich bezüglich des Aufenthaltes im Heim. „Diese Vollmachten greifen für den Fall, dass der Bewohner in diesen Dingen nicht mehr selbst entscheiden kann“, erklärt Witt.