Druckartikel: Viel mehr als nur verkaufen

Viel mehr als nur verkaufen


Autor: Daniela Röllinger

Kitzingen, Donnerstag, 21. März 2019

In Ellen Rammigs Laden in der Kitzinger Siedlung gibt's Erinnerungen,Spaß und auch mal ein tröstendes Wort
Brausegetränk in der Dose, Baked Beans und amerikanische Süßigkeiten: In ihrem kleinen Laden bietet Ellen Rammig Außergewöhnliches an. Unterstützt wird sie von ihrer Tochter Melissa.


„Good morning“ steht in Großbuchstaben an der Verkaufstheke. „Have a nice day.“ Die Worte sind mehr als nette Wünsche. Sie drücken aus, was der kleine Laden in der Kitzinger Siedlung bietet. Klar geht es ums Verkaufen im „M & E Einkaufstreff“. Aber vielleicht noch mehr ums Plaudern, ums Lachen, ums Leben. Und um Amerika.

Ellen Rammig ist eine waschechte Siedlerin. Im größten Kitzinger Stadtteil ist sie aufgewachsen, hat so manche Veränderung miterlebt. So wie jetzt, direkt vor ihrer Haustür. Wenn sie aus dem Fenster schaut, sieht sie den großen Bagger arbeiten. Ein Mehrfamilienhaus nach dem anderen wird in der Breslauer Straße abgerissen, bis alle Gebäude von der Hausnummer 2 bis zur 32 verschwunden sind. In den 1930er Jahren waren sie gebaut worden, viele Bewohner hatten ihr ganzes Leben darin verbracht. Die allermeisten hat Ellen Rammig gekannt. Wie es halt so ist in der „alten“ Siedlung – man kennt sich, man plaudert, man hält zusammen.

Ellen Rammig hatte schon mal einen Tante Emma-Laden im kleinen Bau im Garten ihres Einfamilienhauses an der Ecke Saarlandstraße/Breslauer Straße. 1999 hat sie ihn eröffnet. 2009 wurde ihr Mann schwer krank, kurz danach musste sie schließen. Beide Aufgaben zu meistern, das war zuviel. „Aber ohne Arbeit kann ich auch nicht“, sagt sie und fährt sich lachend mit den Händen durch die Haare. „Also habe ich ein Zertifikat gemacht und ein Nagelstudio eröffnet.“

Dass sie jetzt wieder zurückkehrt zu dem, was sie früher gemacht hat, dass sie vor wenigen Wochen wieder einen kleinen Laden eröffnet hat, hängt mit der Baustelle vor ihrer Tür zusammen. „Schauen Sie rüber“, sagt sie und deutet aus dem Fenster, dorthin, wo die Baggerschaufel an der Mauer des nächsten Gebäudes knabbert. „59 neue Wohnungen“, fasst sie die Pläne der Kitzinger Bau GmbH zusammen. „Das sind 59 mal zwei Leute“, überschlägt sie grob. „Es gibt Bereiche zum Spielen. Das bedeutet Kinder. Und Platz für Ärzte ist auch reserviert. Da geht was. Da ist ein Tante Emma-Laden doch genau richtig.“

Auch wenn die Wohnungen – ein Mix aus 1,5- bis 4,5-Zimmerwohnungen – erst 2021 bezugsfertig sein sollen, hat Ellen Rammig bereits im letzten Jahr gemeinsam mit ihrer Tochter die Weichen für ihren Einkaufstreff gestellt. Ein halbes Jahr haben die beiden Frauen über ihr Sortiment nachgedacht, geplant, umgebaut, gewerkelt und dabei so manche Diskussion ausgefochten. Sie haben Gipsplatten entfernt, Laminat gelegt. „Wir haben alles gemacht, was Frauen nicht machen.“ Wieder lacht die 56-Jährige. Sie lacht gern und viel. Sie redet gern und viel. Aber sie hört auch viel zu.

„Viele Leute vergessen zu leben, Spaß zu haben, sich zu treffen. Die haben nur noch ihr Handy.“
Ellen Rammig

Das ist eines der Dinge, um die es ihr im Laden geht. Dass sie mit ihrem kleinen Angebot kein Vermögen machen wird, ist ihr klar. „Darum geht es doch auch gar nicht. Ich will weder reich werden noch Schulden machen.“ Und ihren Großeinkauf können die Kunden bei ihr auch nicht erledigen. Aber man kann holen, was man vergessen hat. Zu ihr fahren, wenn man schnell mal was braucht. Vom Klopapier bis zum Sahnesteif stehen die verschiedensten Produkte im Regal. Dazu kommt vieles, was es längst nicht in allen anderen Läden gibt: Produkte aus Amerika. Getränke zum Beispiel. Oder Dosengerichte: Campbell's Mushroom Soup steht neben Bush's Baked Beans und Manwich Sloppy Joe Sauce, die Amerikaner gern für ihren Hamburger nutzen oder zum Truthahn genießen. Ein Regal ist ganz den Süßigkeiten aus Übersee vorbehalten, mit Schoko- und Erdnussbutterriegeln, Marshmallows und vielem anderen. Mit all dem, was die Siedler damals, als sie jung waren und die Amerikaner noch in Kitzingen stationiert waren, gerne genascht haben. Gerade dieses amerikanische Angebot ist es, das auch Leute in die Kitzinger Siedlung lockt, die weiter weg wohnen. Mit dem Geschmack der Produkte hat das zu tun, aber zu einem Gutteil auch mit Erinnerungen.

Wer kommt, kauft ein, mancher genießt eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen. Ältere staunen darüber, dass es heute Ahoi-Brause als Dosengetränk gibt, die kennen sie noch von früher, in den kleinen Tüten. Mit ihrem Angebot will sich Rammig von den anderen Läden absetzen. „Das muss ich ja machen, wenn der Laden laufen soll.“ Sie möchte bieten, was die Kunden wollen. Deshalb hängt eine Pinnwand an der Wand. „Wenn die Leute etwas wollen und es fehlt noch, schreiben sie es da hin.“ Tochter Melissa macht sich dann auf die Suche, wie die Rammigs an den gewünschten Artikel kommen.

Viele Kunden plaudern ein bisschen. So wie der Mann, der kurz reinkommt. Wie es seiner Frau geht, fragt Ellen Rammig. Er schüttelt traurig den Kopf. „Nicht so gut“, sagt er und fängt an zu erzählen. Die 56-Jährige und ihre Tochter Melissa, die sie ein bisschen im Laden unterstützt, hören zu. Das ist ihnen wichtig. „Die Leute, die mich kennen, die wissen: Wenn es mir schlecht geht, kann ich zu Ellen. Da trinke ich einen Kaffee, erzähle und sie hört zu.“

Sie hört selbst dann zu, wenn es ihr mal nicht gut geht. Denn auch ihr Leben hat Höhen und Tiefen. Da ist der schwerkranke Mann zu versorgen, der inzwischen zum Pflegefall geworden ist. Die Tochter ist auf den Rollstuhl angewiesen. Das Leben ist nicht immer leicht. Manchmal muss man Kompromisse machen. So ist der Laden wegen der Krankheit ihres Mannes nur bis 14 Uhr geöffnet. „Anders wäre es nicht zu schaffen.“ Doch jammern ist nicht das Ding von Ellen Rammig. Auf die Frage, ob sie Spaß hat am Leben, weil sie so viel lacht, sagt sie: „Ich muss mir den Spaß halt machen“, und da steigen doch kurz Tränen auf. Sie blinzelt sie schnell weg, zieht hastig an ihrer Zigarette und setzt den Satz fort: „... dann ist es wieder ein schöner Tag für die anderen Leute und auch für mich“.

Ellen Rammig packt an, wo es geht, sie plant, sie macht. Über die Frage, warum sie mit 56 Jahren nochmal einen Laden eröffnet, staunt sie: „Ich werd' doch 94 und so lange kann ich meinen Laden dann auch machen.“ Das Alter sei bloß eine Zahl, danach dürfe man nicht schauen. Es gehe darum, zu leben, egal wie alt man sei. „Viele Leute vergessen zu leben“, findet sie. „Sie vergessen Spaß zu haben, sich zu treffen. Die haben nur noch ihr Handy.“ Deshalb will sie auch gezielte Aktionen und Events anbieten, bei denen sich die Leute treffen können. Im Sommer, zur Kirchweih, zu Nikolaus, aber auch jetzt, am Samstag, da stellt eine befreundete Kosmetikerin ihre Produkte vor, ohne Verkauf, nur zur Information und Beratung. „Das gibt eine Gaudi.“

Sagt's, blickt hinaus auf die Baustelle und wird wieder ernst. Fast täglich sieht Ellen Rammig Leute vorbeigehen, die in den Häusern gewohnt haben, die gerade abgerissen werden. Zu Fuß, mit dem Rad, mit dem Rollator kommen sie und schauen, wie ihr Heim in steinerne Brocken zerfällt. „Die Leute, die da gewohnt haben, die leiden schon. Da ist viel Trauer dabei.“ Wenn der eine oder andere kurz im Laden vorbeischaut, werden Erinnerungen geweckt – aber man schaut auch nach vorn, wenn die Wohnungen, die Grünanlagen, die Spielbereiche fertig sein werden. So mancher will dann wieder einziehen – zurück in die gewohnte Umgebung. In die Häuser neben dem kleinen Einkaufstreff.