Rad statt Rollstuhl
Autor: Diana Fuchs
Kitzingen, Mittwoch, 15. März 2017
Mutmacher: Die schier unglaubliche Geschichte eines schier unglaublichen Patienten
Das pelzige Gefühl kam erstmals im Herbst 1992. Die halbe Innenseite der rechten Hand wurde plötzlich taub, kurz darauf auch das rechte Bein. „Ein Freund hat mich gefragt, ob ich betrunken sei, weil ich so komisch laufe“, erinnert sich Speditionskaufmann Andreas Beseler, genannt Besi. Nachts wurde es noch schlimmer: „Ich hab? gedacht, jemand steckt mir einen Schlauch in die Pobacke und lässt mit Hochdruck Wasser hinein, bis das Bein platzt.“ Die Ärzte tippten auf einen Bandscheibenvorfall. Viele Untersuchungen folgten. Besi konnte kaum mehr laufen. Dann erhielt er die Diagnose: MS, Multiple Sklerose.
Andreas „Besi“ Beseler: Ich wusste gleich, was das bedeutet – meine Mama hat auch MS. Als die Ärzte weg waren und ich allein, bin ich auf den Balkon rausgegangen und hab? gedacht: ?Mann, spring? runter und du hast deine Ruh?. Ich hab?s nicht gemacht – nicht, weil ich zu feige gewesen wäre, sondern weil ich der Mutter meiner Frau am Grab versprochen hatte, dass ich auf ihre Tochter aufpassen werde. Es hört sich vielleicht blöd oder kindisch an, aber es war so: Mein Ehrgefühl hat mich davon abgehalten, die Sache schnell zu beenden.
Du hast Krämpfe und Spastiken bekommen, der Arzt hat Dir einen Rollstuhl verschrieben. Warum hast Du Dich nicht hineingesetzt?Beseler: Mein Körper hat damals rasant abgebaut. Auf Deutsch gesagt, habe ich mich vollgepinkelt und vollgeschissen. Ich habe vor Zorn geheult. Es war schrecklich für mich, auf andere angewiesen zu sein. Dann hatte ich aber ein paarmal Glück. Vor allem an dem Tag, an dem ich mir in einem Sanitätshaus einen Rollstuhl raussuchen wollte. Der Inhaber des Sanitätshauses hat zu mir gesagt: „Mensch, Junge, versuch?s doch erst mal mit ?nem Gehstock. Im Rolli kannste noch lange genug sitzen.“ Ich hab? also einen Stock genommen – für elf Euro statt 6000 Euro für den Rolli. Damit bin ich gelaufen wie Frankenstein, mein Gleichgewichtssinn war total verdreht.
Beseler: Ja, irgendwie schon. Ich war wie ein kleines Kind. Berthold ist neben mir hergelaufen und ich hab? immerzu gerufen: „Ich fall? gleich…“ Tatsächlich hat?s mich auch erst mal voll in den Graben gefeuert. Aber mit der Zeit wurde ich sicherer. Irgendwann sind wir unsere Hausstrecke gefahren, den „Hahnenkamm“ im Spessart. Das Hochfahren ging super, aber bei der langen Abfahrt hab? ich ?nen Spasmus gekriegt. Als ich am Boden lag, wollte mein Kumpel helfen und mir den Fuß halten – und ich hab? ihm aufgrund der Spastik voll ins Gesicht getreten. Ich habe geheult, er hat geblutet. Irgendwann haben wir uns angeguckt und mussten lachen… Tja, und dann sind wir wieder gefahren. Und wieder…
Beseler: Ich habe gemerkt, dass die Bewegung mir sehr gut tut und dass mein Körper mir wieder besser gehorcht. Ich bin froh, dass ich damals nicht das gemacht hab?, was der Professor mir geraten hat – nämlich mich zu schonen. Sonst säße ich jetzt sicher im Rollstuhl.
Wie kommt es, dass Du so gut Rad fahren kannst, während Laufen Dir schwer fällt?Beseler: Die Ärzte erklären es so: Mein Hirn kriegt auf dem Rad keine Fehlfunktion, weil ich nicht auf eigenen Beinen stehe. Ich fahre immer mit sehr hohem Gegendruck, also in einem großen Gang. Mit Gegendruck kann ich auch auf dem Cross-Trainer ewig laufen, aber ohne Gegendruck, etwa auf dem Laufband, schaffe ich keinen Meter.
Vor fünf Jahren hast Du das Projekt „Rad statt Rollstuhl“ gestartet. Was ist das?Beseler: Freunde haben mich angestachelt: „Wenn Du bei Wettkämpfen mit uns mithalten kannst, dann kannst Du auch Ansporn für andere sein.“ Ich wollte das erst nicht. Aber dann hab? ich gesagt: „Okay – aber wenn wir was machen, dann was Richtiges: eine Benefizaktion.“ Also haben wir Sponsoren gesucht. Mit einem Freund, dem Armin, bin ich 2013 nach Kanada geflogen und mit dem Rennrad 3800 Kilometer durch die Rocky Mountains gefahren. Ich wollte zeigen, dass es sich lohnt, gegen das „Schicksal“ anzukämpfen. Meine Botschaft ist: Nicht aufgeben! Auch Gesunde haben mal Phasen, in denen sie hinschmeißen wollen – für die gilt das genauso.