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Immer den Menschen im Blick


Autor: Daniela Röllinger

Kitzingen, Montag, 09. Mai 2022

Diakonie-Geschäftsführer Jochen Keßler-Rosa geht in den Ruhestand. Er hat viel erlebt und gestaltet – und mit seiner Meinung nie hinterm Berg gehalten.
Jochen Keßler-Rosa war seit 2002 Geschäftsführer der Diakonie Kitzingen. Die Anfangszeit war schwierig, es galt, aus einem finanziellen Minus herauszukommen. Ihm war wichtig, dass es wieder Entwicklungsspielräume gibt – unter anderem für die neue Zentralküche und die Tagespflege, beides im Mühlenpark, das ökumenische Projekt Sozialberatung Egerländer Straße und die Schuldner- und Insolvenzberatung.


Kitzingen Knapp 30 Jahre trug Jochen Keßler-Rosa die Verantwortung für die Diakonie in der Region, war auch Geschäftsführer der Diakonie Kitzingen. In dieser Zeit hat sich viel verändert in der Pflege. Ob Finanzen, Baumaßnahmen, die Umsetzung neuer Gesetze, Pflegenotstand oder Corona – bei der Lösung aller Probleme war ihm stets Eines wichtig: „Im Vordergrund muss immer der Mensch stehen.“

Frage: Herr Keßler-Rosa, Sie gehen in wenigen Wochen in den Ruhestand, der Abschiedsreigen in den verschiedenen Tätigkeitsbereichen hat schon begonnen. Welche Gefühle haben Sie dabei?

Jochen Keßler-Rosa: Es fühlt sich ein bisschen unwirklich an. Auf der einen Seite ist da Erleichterung, dass nicht mehr so viel Verantwortung auf meinen Schultern lastet. Es war schon extrem in den letzten zwei Jahren. Gleichzeitig ist da jetzt so etwas wie ein offenes, freies unbekanntes Land vor mit... Unterm Strich fühlt es sich aber gut an.

Sie waren etwa 30 Jahre Leiter des Diakonischen Werks, erst nur in Schweinfurt, später kam unter anderem Kitzingen dazu. Was hat sich in diesen Jahrzehnten verändert?

Keßler-Rosa: Die Pflegebranche hat sich deutlich professionalisiert. Ich habe die Einführung der Pflegeversicherung miterlebt, die ein unglaubliches Wachstum in der Pflege mit sich brachte. Zugleich ist der Bedarf an sozialer Arbeit gestiegen. Wir erleben, dass immer mehr Menschen mit den Anforderungen, die an sie gestellt werden, nicht mehr zurechtkommen. Mein Arbeitsschwerpunkt lag zu zwei Dritteln in der Altenpflege, zu einem Drittel bei Sozialer Arbeit – beide Bereiche sind gewachsen.

Ihr Leitsatz lautet: „Die Diakonie ist für Menschen da und nicht, um Profit zu machen.“ Wie schafft man es, diesem Leitsatz zu folgen und zugleich auf die Finanzen zu schauen?

Keßler-Rosa: Man kann sagen, dass es mein Job ist, zu schauen, wo es Geld gibt, um die Aufgaben, die wir haben, erledigen zu können. Wir sehen den Bedarf und überlegen: Wie kriegen wir die Finanzierung hin? Die Hilfesysteme sind ja auch gewachsen, der Pflegeschlüssel hat sich weiterentwickelt, die Einnahmemöglichkeiten sind gestiegen, wir haben Partner wie beispielsweise die öffentliche Hand, können Bankdarlehen aufnehmen. Das ist ein unternehmerisches Denken. Zugleich aber geht es immer zuerst um den Menschen. Darum, was der Mensch braucht.

Der Pflegenotstand hat sich extrem verschärft. Zugleich wächst die Zahl der älteren Menschen, die betreut werden müssen. Haben Sie eine Lösung?

Keßler-Rosa: Der Pflegenotstand ist eine Herausforderung, und Corona hat die Situation noch verschärft. Wir müssen überlegen: Wie kann man das Personal gut genug behandeln, die Tarife erhöhen, die psychische Belastung verhindern, das Arbeitsfeld anpassen? Wir müssen der Politik sagen: Ihr müsst was tun für das Image des Pflegeberufes. Es ist kein Beruf, den man mal eben nebenher machen kann, sondern ein Heilberuf, der auf Augenhöhe mit anderen medizinischen Berufen stehen muss. Und noch etwas: Nachbarschaftshilfe muss mehr Wertschätzung erfahren, da kann im Vorfeld von Pflege und Betreuung viel Gutes erreicht werden.

Mit Ihrer Meinung haben Sie nie hinter dem Berg gehalten, waren und sind ein Mann offener Worte, sei es zur Pflege, zu Hartz IV, beim Thema Asyl oder auch zur Impfpflicht. Eckt man da an?

Keßler-Rosa: Ja klar. Deshalb habe ich auch nie politisch Karriere gemacht. Ich habe ein gutes Verhältnis zu den Politikern auch vor Ort, aber ich verbiege mich nicht, habe mich nie „verkauft“, um in der Politik aufzusteigen. Für mich ist das aber kein Anecken, was Sie ansprechen. Ich habe versucht, Inhalte zu transportieren. Obwohl es sicherlich Leute gibt, die sagen, ich wäre unbequem.

Sie gehörten lange dem Schweinfurter Stadtrat an, waren erst bei der CSU, dann bei den Freien Wählern, wollten Oberbürgermeister werden, saßen im Bezirkstag, haben für die Bundestagswahl kandidiert. Es gibt nicht viele Pfarrer, die politisch aktiv ist. Warum ist Ihnen politisches Engagement wichtig?

Keßler-Rosa: Das ist tatsächlich eine Glaubensfrage. Ich bin in der evangelischen Jugend groß geworden, da haben wir uns die Köpfe heiß geredet. Es gibt verschiedene Möglichkeiten: Ich engagiere mich für die Gesellschaft auf der Kanzel und in der Schule, was ich ja anfangs auch gemacht habe. Oder ich rede auf andere Weise mit. Für mich war das die Diakoniearbeit. Da kann ich umsetzen, was ich auch auf der Kanzel sagen würde. Als Stadt- und Bezirksrat durfte ich keine gottesdienstlichen Handlungen ausführen – und das ist völlig in Ordnung so. Das hat mir ein Stück Freiheit gegeben. Aber ich wurde immer respektiert als jemand, dessen Beruf Pfarrer war. Ich habe gute Erfahrungen gemacht mit den Leuten in der Kirche und in der Politik.

Früher war das Diakonische Werk Kitzingen eigenständig. Im Jahr 2000 kam es zu einer finanziellen Schieflage, der Zusammenschluss mit Schweinfurt erfolgte. Sie wurden 2002 auch Geschäftsführer in Kitzingen. Wie schwierig war es, die Probleme zu lösen?

Keßler-Rosa: Auslöser dafür, dass ich Kitzingen mit übernommen habe, waren nicht die Finanzen. Der damalige Geschäftsführer wurde Bürgermeister in seinem Heimatort und hat das Amt bei der Diakonie ziemlich schnell aufgegeben. Es war auch keine Übernahme oder Fusion, die Regionen sind weiterhin selbstständig, so auch Kitzingen. Schweinfurt übernimmt nur die Verwaltung und Geschäftsführung. Der Vorstand vor Ort hat das Sagen. Die Verankerung vor Ort ist uns wichtig, und dass die Leute sagen: „Das ist unsere Diakonie“ – mit unseren Beschlüssen und unserem Geld.

Und wie war das nun mit der Schieflage?

Keßler-Rosa: Da muss ich klarstellen: Eine Pleite stand nie zur Debatte. Aber es waren schwierige Jahre und in der Zeit habe ich wirklich schlecht geschlafen. Wir hatten tolle Mitarbeiter vor Ort, es gab immer eine gute Gesprächsebene auch mit Heimleitern und Diakoniestationen. Wunderbare Menschen. Wenn man die hat, dann gelingt es, über die Jahre wieder aus dem Minus rauszukommen. Das haben wir geschafft.

Auch die Aufgabe des Frida-von-Soden-Hauses und der damit verbundene Umzug in das neugebaute Seniorenhaus Mühlenpark waren sicher nicht einfach?

Keßler-Rosa: Es ist schmerzlich, wenn man sieht, dass eine Immobilie nicht mehr taugt. Wir haben lange versucht, in dem Gebäude eine Lösung zu finden, aber es ging einfach nicht. Als wir gemerkt haben, dass wir wieder wirtschaftlich stabil sind, haben wir mit einem Architekten und einer Baufirma eine Lösung entwickelt und auf der anderen Mainseite den Mühlenpark errichtet. Vorher lagen unsere beiden Einrichtungen ja recht nah beieinander. Aber vor der Entscheidung gab es schon unendliche Diskussionen. Wichtig war uns, dass wir mit dem Blindeninstitut jemanden gefunden hatten, der das Gelände in Kitzingen weiter für soziale Zwecke nutzt.

Die Senioren haben sich verändert – und ihre Ansprüche auch. Muss sich auch die Seniorenbetreuung ändern?

Keßler-Rosa: Natürlich, da hat sich viel entwickelt. Man liegt im Heim nicht von früh bis spät im Bett. Heute wird jeder aktiviert – im Seniorenheim, aber auch in der ambulanten Pflege. Man schaut, was die Leute interessiert und bietet es an. Es gibt Beschäftigungsassistenten, Ergotherapie, Sturzprophylaxe und vieles mehr. Heute sind ja auch viele Leute im Pflegeheim, die früher im Krankenhaus gewesen wären. Und es gibt viel mehr, die unter Demenz leiden. Da braucht es natürlich entsprechende Angebote.

Welche Rolle spielt die Tagespflege?

Keßler-Rosa: Die Tagespflege ist mir eine Herzensangelegenheit. Es braucht ein komplettes Konzept der Seniorenbetreuung – vom Seniorennachmittag über die ganze Phase des Älterwerdens bis zur Begleitung beim Sterben. Der Sprung von der ambulanten Pflege einmal pro Woche bis zum Pflegeheim ist groß – diese Lücke kann die Tagespflege schließen. Das gesamte System muss auf bewusste Schritte angelegt sein, die sich am Wunsch des Menschen orientieren, möglichst lange selbstständig zu leben.

Corona scheint aus den Schlagzeilen zu verschwinden. Werden jetzt die Probleme in den Seniorenheimen wieder vergessen?

Keßler-Rosa: Erst mal muss ich was Persönliches sagen: Corona war fürchterlich, ganz schrecklich. Dass anfangs so viele Leute gestorben sind, die vielen Infizierten... Ich wollte mich bei den Weihnachtsfeiern im letzten Jahr von den Mitarbeitern verabschieden, aber das ging ja nicht. Damit ging und geht es mir nicht gut. Abgesehen vom Persönlichen: Ich habe erlebt, wie belastet die Mitarbeiter waren, wegen der Schutzkleidung, wegen der Angst, dass sich jemand infiziert. Mir ist noch sehr präsent, mit wieviel Angst wir Tag und Nacht durch die Gegend gelaufen sind. Und die Anspannung ist immer noch zu spüren, die Angst sitzt immer noch im Nacken. Dazu kamen Diskussionen übers Impfen, es gab Streit in den Teams, Freundschaften sind zerbrochen.

Verschwindet mit Corona auch die Anerkennung für die Pflegeberufe?

Keßler-Rosa: Das ist zu befürchten. Die Situation in den Heimen und in der Pflege gerät doch jetzt schon wieder aus dem Blickfeld. Ich finde es unmöglich, wie wenig wertschätzend die Gesellschaft mit der Pflege umgeht. Jetzt werde ich nochmal politisch: Bei einer Wahl sollten die Leute darüber nachdenken, wie die Politik mit den alten Menschen umgeht oder mit Kindern und der Erziehung. Und nicht danach wählen, ob es mehr Parkplätze gibt oder weniger. Das ist nicht wichtig.

Das Motto der Diakonie lautet „Gemeinnützige Arbeit und soziales Engagement: Stark für andere“. Wie schwer ist es für denjenigen, der an der Spitze steht, immer stark zu sein? Hat man nicht manchmal einfach genug?

Keßler-Rosa: So ist es. Es gab Phasen, in denen ich dachte: Nein, ich will das jetzt nicht. In denen mein Akku leer war. Aber ich habe das dann doch gut weggesteckt. Meine Frau ist Pfarrerin, wir stützen uns gegenseitig. Ich muss auch sagen: Ich bin jetzt 66, habe meine Familie, den Sport und die Musik als Ausgleich. Man muss ja auch bewusst für sich sorgen. Und dann ist es ja auch eine Glaubensfrage. Es hilft, wenn man weiß, dass man nicht allein ist. Ich finde, Gott hat gut auf mich aufgepasst.

Und jetzt steht eben der Ruhestand an. Wird jetzt alles anders in Ihrem Leben?

Keßler-Rosa: Nein, ich bin noch zwei Jahre überregional Vorsitzender des Diakonischen Rates in Bayern und biete an, Diakonische Werke in Bayern zu unterstützen. Aber es fühlt sich trotzdem anders an, weil die unmittelbare Last nicht mehr da ist. Ich muss nicht mehr früh auf die Uhr schauen und denken, ich muss los. Darüber freue ich mich.

Abschiedsgottesdienst

Ende Juli wird Pfarrer Jochen Keßler-Rosa nach 30-jähriger Tätigkeit als Leiter der Diakonie in der Region aus dem Vorstand des Diakonischen Werkes Schweinfurt ausscheiden und in den Ruhestand gehen. Seit Januar 2022 ist Carsten Bräumer Mitglied des Vorstands des Diakonischen Werkes Schweinfurt und damit auch neuer Geschäftsführer des Diakonischen Werkes Kitzingen. Schon an diesem Donnerstag, 12. Mai, wird Jochen Keßler-Rosa um 17 Uhr in der Stadtkirche Kitzingen im Rahmen eines Gottesdienstes aus seinen Aufgaben in Kitzingen verabschiedet. Gäste sind willkommen.