Druckartikel: Die Scheren-Engel

Die Scheren-Engel


Autor: Diana Fuchs

Kitzingen, Montag, 17. Dezember 2018

Zwei junge Friseurinnen und ihre schnittigen Besuche im Notwohngebiet.
Vom „langhaarigen Kalle“ zum flotten Karlheinz: Herr Gerber wird verschönert.


Jeder kennt das Phänomen. Ein guter Friseur kann einen „schön machen“. Er kann einem innerhalb kürzester Zeit Selbstbewusstsein, Wohlgefühl und Lebensfreude geben. Mit einem tollen Haarschnitt geht man gleich viel beschwingter durchs Leben. Allerdings: So ein Friseurbesuch kostet Geld. Deshalb fällt er für diejenigen, die wenig Geld zur Verfügung haben, meist flach. Nicht allerdings im Kitzinger Notwohngebiet. Dorthin kommen etwa alle acht Wochen zwei Friseurinnen, um den Bewohnern kostenlos die Haare zu schneiden.

Wie in einem Salon

Montagnachmittag im „Wegweiser“, dem ehemaligen Caféstüble und jetzigen sozialen Treffpunkt im Notwohngebiet. Manuela Link, ehrenamtliche Helferin, schließt die Tür auf, vor der schon zahlreiche Männer und Frauen warten. Drinnen hat sie mit ihrem treuen Helfer Wolfgang Schermer, der seit Jahren in der Egerländer Straße lebt, schon alles vorbereitet: Zwei große Spiegel stehen auf Tischen an der Wand – Frisierplätze fast wie in einem Salon.

Einer der Plätze wird heute allerdings leer bleiben. „Jenny ist richtig krank“, sagt Lisa-Marie Funk bedauernd. Die 22-jährige Friseurin aus Kitzingen-Etwashausen und ihre Freundin Jenny Wieser bestreiten die Montagnachmittage im Wegweiser normalerweise gemeinsam. Doch heute muss Lisa-Marie alleine ran. Sie beruhigt die enttäuschten Gesichter, die befürchten, wieder weggeschickt zu werden: „Ich bleibe länger. Wir schaffen euch schon alle!“

Lisa-Marie breitet ihre Utensilien aus: verschiedene Kämme, Bürsten, Scheren. Und auch zwei Elektroschneider. „Den einen brauche ich fürs Grobe, den anderen, um auch die feineren Härchen zu trimmen, zum Beispiel am Hals oder an den Augenbrauen.“

Wer zuerst auf dem Stuhl vor der Etwashäuserin Platz nehmen darf und den Friseur-Umhang umgelegt bekommt, ist klar geregelt. Wolfgang „Silver“ Schermer hat im Vorfeld die Wohnblocks in der Egerländer Straße und am Tannenberg abgeklappert und gefragt, wer Bedarf hat. Fein säuberlich hat er die Namen in zwei Listen eingetragen, alle Viertelstunde einen. „Jetzt müssen wir halt schauen, wie wir die Listen zusammenlegen“, sagt er. „Aber das wird schon“, fügt er hinzu und verhandelt dann gleich mit den Wartenden die neue Reihenfolge.

Lisa-Marie hat unterdessen ihre erste „Kundin“, eine junge Frau, schon fast fertig. „Wie schneiden wir den Pony?“, fragt sie. „Wie immer ganz gerade?“ Schüchternes Nicken. Und zum Abschied wenig später ein leises „Vielen Dank!“.

Traumberuf seit Kindertagen

Die meisten kommen mit gewaschenen Haaren her. „Manche duschen auch vorher direkt hier im Wegweiser“, berichtet die Friseurin. Grundsätzlich sei es ihr egal, ob sie nass oder trocken schneidet, sagt Lisa-Marie. Friseurin zu werden, das war seit Kindertagen ihr Traumberuf. Vor einem Jahr hat sie ausgelernt und arbeitet nun im Salon „Haargenau“ in Volkach. Zuvor hat sie in Kitzingen bei Friseurmeisterin Astrid Lalomia gelernt. Lalomia war es auch, die vor gut zwei Jahren den Zeitungsaufruf las, dass die Ehrenamtlichen des Wegweisers sich über Friseurinnen für ihre Schützlinge freuen würden. „Sie hat Jenny und mir davon erzählt und wir waren uns gleich einig, dass wir das probieren wollen.“

Gesagt, getan: Ende 2016 rückten Jenny und Lisa-Marie zum ersten Mal bei den Notwohnern an. „Anfangs wurden wir erst einmal aus der Ferne beobachtet. Aber dann sind es schnell immer mehr Besucher geworden. Die Leute haben uns kennen gelernt und seitdem ist die Liste jedes Mal voll.“

Zirka sechsmal im Jahr nutzen die beiden jungen Frauen mit Erlaubnis ihrer aktuellen Chefs ihren freien Montag, um fremden Menschen – die allerdings mit der Zeit gar nicht mehr so fremd sind – kostenlos zu einem neuen Look zu verhelfen. Warum sie dies tun? „Naja, ich weiß ja, was ein Friseurbesuch kostet“, sagt Lisa-Marie. „Wenn man toll aussieht, fühlt man sich auch so.“ Das Selbstwertgefühl steige, es gehe einem gut. „Ich finde es einfach schön, wenn die Leute happy sind. Mir geht es dann auch gut!“

Vor Lisa-Marie sitzt nun Jürgen. „Ich hab' die letzten Wochen gar nicht mehr in den Spiegel gucken wollen, weil mich da immer so ein Monster angeschaut hat“, sagt er fast entschuldigend. Die Etwashäuserin lächelt und legt los. Kaum eine Viertelstunde später sagt sie: „Schau' jetzt mal in den Spiegel. Kein Monster mehr da...“

Von der Eckband ganz in der Nähe kommt ein anerkennender Pfiff. „Fesch, fesch“, kommentiert Mike Jürgens Kurzhaarfrisur. Dann nimmt der blonde Mann selbst auf dem Frisierstuhl Platz. Mike erinnert mit seiner lockigen Sturmfrisur an einen vom Wind zerzausten Hochseekapitän. Lisa-Marie kämmt und kämmt. Dann schneidet sie und schneidet. Wenig später strahlt sie: „Jetzt hörste wieder was“, sagt sie zu dem 67-Jährigen vor sich und deutet auf die frei geschnittenen Ohren. Mike lacht sein Käpt'n-Blaubär-Lachen: „Du machst das super! Dankeschön.“

„Die kann's halt“, findet Karlheinz Gerber. Der langjährige Bewohner des grünen Blocks in der Egerländer Straße ist mit langen, fransigen Strähnen in den Wegweiser gekommen. Lisa-Marie fackelt nicht lange: Mit dem Elektroschneider geht es den Zotteln an den Kragen. „Der sieht jetzt wieder was. Und er is' zehn Jahr' jünger“, dringt es kurz darauf vom Nachbartisch herüber. Karlheinz Gerber fährt sich mit den Fingern vorsichtig übers akkurate Kurzhaar und seine Augen strahlen wie die eines Kindes neben dem Christbaum.

Viele der „Notwohner“ arbeiten

Während Lisa-Marie einen nach dem anderen an die Reihe nimmt, sitzen die Wartenden an den Tischen, trinken einen Kaffee oder Tee. Manche machen sich in der Küche nützlich oder helfen Manuela Link, die gespendete Textilien in die Regale des sozialen Treffpunktes sortiert. Ganz automatisch entstehen Gespräche über Gott und die Welt. Oft über die Arbeit. Denn viele der Bewohner gehen – aller Vorurteile zum Trotz – einer geregelten Arbeit nach. Eine junge Frau putzt nachts Treppenhäuser, eine Mitfünzigerin ist Mädchen für alles in einem Kitzinger Restaurant, ein Mann mittleren Alters ist auf dem Bau beschäftigt.

„Viele der „Notwohner“ arbeiten. Aber es reicht oft trotzdem nicht“, weiß Manuela Link. „Diese junge Frau da“ – sie deutet auf eine kleine Person – „bezahlt zum Beispiel die Schulden ihrer Mutter ab.“ Schicksale wie dieses sind es, die die Ehrenamtlichen immer wieder berühren. Und zusammenhalten lassen. „Die Mädels sind super“, sagt Manuela Link beispielsweise über die freiwilligen Friseurinnen. „Beide sind ganz unkompliziert, haben keine Berührungsängste. Die Bewohner merken das und haben Vertrauen zu ihnen.“

Lisa-Marie nickt. „Die Leute geben einem so viel zurück“, sagt sie. „Dieses schöne Gefühl ist mit keinem Geld der Welt zu bezahlen.“