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„Hinterbliebene nicht meiden“


Autor: Diana Fuchs

Iphofen, Mittwoch, 15. Februar 2017

Hanjo von Wietersheim ist Koordinator der Psychosozialen Notfallversorgung im Landkreis Kitzingen. Bei der Familientragödie am Dienstag in Iphofen war er mit Kollegen vor Ort, um Hinterbliebene und Einsatzkräfte zu unterstützen. Er sagt: „Das Schlimmste ist es, den Angehörigen aus dem Weg zu gehen“
Hanjo von Wietersheim: „Die Heftigkeit und Brutalität einiger Einsätze der vergangenen Monate ist bestürzend.“


Immer wieder Schreckensnachrichten, immer wieder unfassbares Leid. Die Notfallseelsorger sind gefordert wie nie zuvor. Hanjo von Wietersheim, evangelischer Pfarrer von Iphofen und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Psychosoziale Notfallversorgung im Landkreis Kitzingen (PSNV), gehörte zu den sechs Notfallseelsorgern, die am Valentinstag in Iphofen im Einsatz waren. Ein Mann hatte allem Anschein nach seine Frau umgebracht und sich dann selbst im Schuppen neben dem Haus erhängt. Der Sohn fand die ermordete Mutter in der Küche liegend und dann auch den toten Vater. Wie kann man das verarbeiten?

Frage: Notfallseelsorger sind in jüngster Zeit besonders gefordert – oder täuscht dieser Eindruck?

HANJO VON WIETERSHEIM: Nein, der Eindruck täuscht nicht. Im vergangenen Jahr hatten wir 77 Einsätze – das ist die zweithöchste Zahl, seit es die PSNV im Landkreis Kitzingen gibt. Nur 2015 waren es noch mehr Fälle, nämlich 85 – allerdings waren viele davon keine akuten Einsätze, sondern einfache Hilfeleistungen nach der Flüchtlingswelle; zum Beispiel waren wir in der Notunterkunft im Kitzinger Innopark einfach für die Leute da.

Es wirkt, als seien die Einsätze in den vergangenen Monaten besonders brutal gewesen. Ist das so?

WIETERSHEIM: Ja, die Heftigkeit und Brutalität einiger Einsätze der vergangenen Monate ist bestürzend – etwa beim Axtattentat in Würzburg, beim erweiterten Suizid in Markt Einersheim und jetzt auch beim erweiterten Suizid in Iphofen.

Haben Sie eine Erklärung für die Zahl und die Heftigkeit der Fälle?

WIETERSHEIM: Nein. Manchmal scheint es mir, als gebe es Suizidwellen. Aber das ist nicht mit Zahlen zu beweisen.

In Iphofen handelt es sich nicht nur um eine Selbsttötung, sondern offenbar um erweiterten Suizid. Warum „löst“ jemand seine Probleme, indem er andere Menschen mit in den Tod reißt?

WIETERSHEIM: So einfach lässt sich das leider nicht sagen. In vielen Fällen sind die Täter massiv aggressiv. Wenn sie eine vermeintliche Kränkung erfahren, glauben sie, dass sie damit nicht leben können. Und jemand anders soll das auch nicht.

Lässt sich erweiterter Suizid mit einer psychischen Erkrankung, etwa Depression, erklären?

WIETERSHEIM: Nein. Manche Menschen, die psychisch krank sind, sehen plötzlich keinen Ausweg mehr und töten sich selbst. Aber sie sind nicht aggressiv gegen andere Menschen. Wenn jemand nicht nur sich selbst umbringt, sondern andere mit in den Tod nimmt, dann ist das nicht die Folge einer normalen Depression, sondern da spielt auch sehr viel Aggression mit.

Können die Angehörigen der Toten, die beiden Kinder und die Enkelkinder, nach so einem Erlebnis je wieder ein normales Leben führen?

WIETERSHEIM: Das ist die Crux in solchen Fällen: Für denjenigen, der sich selbst getötet hat, ist es vorbei. Aber die anderen müssen mit seiner Tat weiterleben. Sie werden immer wieder mit dem Haus, mit dem Ort, mit dem Geschehen konfrontiert. Um so etwas verarbeiten zu können, braucht es viel Zeit und einfühlsame Menschen.

Gleich am Dienstagabend waren sechs Notfallseelsorger und Mitarbeitende der PSNV in Iphofen vor Ort. Wie haben sie den Menschen beigestanden, vor allem dem Sohn, der seine toten Eltern gefunden hat?

WIETERSHEIM: Es gibt Regeln und Verfahrensweisen, die wir immer anwenden. Da ist viel erlerntes Handwerk dabei, kann man sagen. Einer von uns organisiert den Einsatz, die anderen werden für ihre Dienste eingeteilt, je nach Anforderungen. In Iphofen musste ein Team-Mitglied zum Beispiel gemeinsam mit der Polizei weiteren Verwandten die Todesnachricht überbringen. Vor Ort geht es darum, das akute psychische Leid, aber auch das körperliche zu lindern. Wir hatten ein Fahrzeug der Feuerwehr Iphofen mit Standheizung zur Verfügung; dort, in dem geschützten, warmen Raum, konnten wir mit den Angehörigen reden. Wir haben mit ihnen darüber gesprochen, wie es weitergehen könnte. Vor allem ist es aber unsere Aufgabe, das Leiden einfach mit auszuhalten.

Wie kann man als Bekannter oder Freund den Hinterbliebenen helfen?

WIETERSHEIM: Freunde und Verwandte scheuen sich oft, einfach mal zu den Menschen hinzugehen, weil sie nicht wissen, was sie ihnen sagen sollen. Das ist schlimm, denn es bedeutet für die Betroffenen eine zusätzliche Belastung: Sie werden jetzt auch noch gemieden. Mein Rat: Einfach hingehen und da sein. Manchmal reicht allein das schon aus; manchmal kann man auch ganz praktisch helfen, Besorgungen machen, mit den Kindern spielen etc. Das Schlimmste ist es, den Hinterbliebenen aus dem Weg zu gehen.

Wenn sie vor Ort mit so massiven, brutalen Szenen konfrontiert werden, muss das auch für alle Einsatzkräfte sehr belastend sein. Wie gehen Sie damit um?

WIETERSHEIM: In der Tat: Die Belastung ist enorm. Wir haben aber jederzeit jemanden, den wir ansprechen können – das hilft schon sehr. Zudem bekommen wir regelmäßig Supervision.

Wie geht es jetzt in Iphofen weiter?

WIETERSHEIM: Während Kripo und Gerichtsmediziner ihre Arbeit machen, wird sich der katholische Pfarrer von Iphofen, Pater Adam, um die Angehörigen kümmern. Es müssen einige schwierige Fragen geklärt werden, etwa, wie die Beerdigung stattfinden soll. Pater Adam wird da einfühlsam helfen.

Unabhängig vom Fall in Iphofen, ganz generell betrachtet: Kann man irgendwie erkennen, wenn jemand Selbstmord-Absichten hat oder gar erweiterten Suizid ins Auge fasst?

WIETERSHEIM: Nicht alle, aber viele Suizidgefährdeten kündigen ihren Suizid an! Leider wird das oft nicht ernst genommen. Früher hieß es oft: „Wer über Suizid redet, der tut's nicht.“ Aber das stimmt nicht. Man muss den Betreffenden helfen, zum Beispiel mit ihnen zum Arzt gehen oder den Krisendienst Würzburg anrufen, Tel. (09 31) 57 17 17 oder im Internet: www.krisendienst-wuerzburg.de.

Notfallseelsorge: Fünf Jahre, nachdem die Notfallseelsorge in Bayern gegründet wurde, etablierte sie sich auch im Kreis Kitzingen. Das war vor 21 Jahren. Die Arbeitsgemeinschaft Psychosoziale Notfallversorgung im Landkreis Kitzingen (PSNV) gibt es seit zehn Jahren. Ihr gehören alle Rettungsorganisationen, die Polizei, der Landkreis sowie die evangelische und die katholische Kirche an. Die Alarmierung erfolgt durch die integrierte Leitstelle Würzburg.