Kurse helfen Analphabeten im Raum Würzburg
Autor: Pat Christ
Würzburg, Donnerstag, 10. Januar 2013
Die Volkshochschule Würzburg bietet seit über 30 Jahren Kurse für Erwachsene an, die kaum lesen oder schreiben können. Ihre Schwäche verbergen die Betroffenen oft mit verblüffenden Tricks, weiß Kursleiterin Anett Lussert.
Mit Tastatur und Maus arbeitet kaum jemand jener Menschen, die in die Würzburger Volkshochschule (Vhs) zu Anett Lusserts Kurs "Lesen und Schreiben" kommen. Die Welt der Internetkommunikation ist ihnen ebenso verschlossen wie viele andere Welten, denn sie können kaum lesen und noch schlechter schreiben. Seit über 30 Jahren bietet die Bildungseinrichtung zweimal jährlich einen Kurs für Analphabeten aus der Region Würzburg an. Mindestens ein Dutzend Menschen nimmt im Jahr daran teil.
Im Rennen um gute Jobs besser abzuschneiden, ist eine Motivation der Teilnehmer. Doch es gibt auch ältere Menschen, die sich nach der Berufstätigkeit ihren Traum vom Lesenlernen erfüllen möchten. "Derzeit nimmt eine aus der Türkei stammende Frau teil", erzählt Lussert. "Sie durfte als Mädchen nur ein Jahr lang zur Schule gehen." Hatte sie zu Hause einen Stift in der Hand, berichtete die Teilnehmerin, habe man sie auf den Arm geschlagen. Mit über 50 Jahren macht die Migrantin, die seit langem in Deutschland lebt und gut Deutsch spricht, nun einen neuen Leselernversuch: "Sie möchte einmal eine Ansichtskarte aus dem Urlaub schreiben können."
Von Etiketten abgemalt
Aus Angst vor Vorurteilen und Furcht davor, lächerlich gemacht zu werden, tun die Betroffenen alles, um ihre Schwäche zu verbergen. "Die Tricks sind oft verblüffend", sagt Lussert. Einmal saß die Leiterin eines Getränkefachmarkts bei ihr im Kurs: "Sie machte die Bestellungen ganz alleine." Wie sie das denn hinbekommt?, fragte Lussert. "Ich übernehme einfach alles, wie es auf den Etiketten steht", lautete die Antwort. Ein anderer Teilnehmer brachte es fertig, den Führerschein in Theorie und Praxis zu bestehen. Lussert zweifelte zunächst, ob er tatsächlich funktionaler Analphabet ist: "Doch im Kurs stellte sich heraus, dass das wirklich stimmte!"
Seit zehn Jahren unterrichtet die gelernte Pädagogin und Slawistin an der Würzburger Volkshochschule Lesen und Schreiben. Manche Teilnehmer kennt die 43-Jährige seit Jahren: "Sie nehmen immer wieder an den Kursen teil, weil sie im Training bleiben möchten." Dies ist nicht ungewöhnlich, bestätigt Robert Selzer, der bei der Vhs für den Bereich "Sprachen" zuständig ist: "Einer deutschlandweiten Umfrage zufolge nimmt ein erheblicher Teil bis zu zehn Semester lang an den Alphabetisierungsseminaren teil." Die Defizite im Erwachsenenalter mit nur einem, 30 Stunden umfassenden Kurs gut auszugleichen, das sei sehr schwierig.
Die Teilnehmer an Lusserts Kurs müssen Deutsch ähnlich wie eine Zweitsprache lernen. Sich auf den Unterricht einzulassen, ist für viele von ihnen mutig, weiß die Pädagogin: "Denn nicht wenige hatten Schulangst." Die gilt es zu überwinden. Dass sie nicht lesen und schreiben gelernt haben, ist laut Selzer in vielen Fällen aber auch auf das Elternhaus zurückzuführen. Einige Kursteilnehmer mussten schon als Kind viel arbeiten und hatten keine Zeit für die Schule. Andere wurden misshandelt. Wieder andere hatten Eltern mit gesundheitlichen Problemen oder einer Suchterkrankung, die sich nie richtig um ihre Kinder kümmern konnten.
Wie viele Menschen ganz oder teilweise schreibunkundig sind, fand 2011 eine Studie aus Hamburg heraus. Selzer: "Demnach sind 7,5 Millionen Menschen in Deutschland funktionale Analphabeten." Zwei Millionen von ihnen fällt das Lesen und Schreiben selbst einzelner Wörter schwer.
Jeder fünfte Europäer betroffen
Deutschland ist nicht hat das einzige Land in der EU mit dieser Problematik. Einer im September 2012 veröffentlichten Studie im Auftrag der EU-Kommission zufolge ist jeder fünfte Europäer leseschwach. Bis zum Jahr 2020 soll ihr Anteil von 20 auf 15 Prozent sinken. Die Bundesregierung kündigte bereits eine Kampagne zur Alphabetisierung der deutschen Bevölkerung an. Selzer: "Wir hoffen, dass 2013 mehr Gelder fließen, damit wir unser Angebot ausweiten können." Wichtig wäre vor allem, die Kursgebühr zu senken. Denn viele der Betroffenen verdienen nichts oder nur wenig. Die Teilnahmegebühr von 75 Euro pro Semester ist für sie deshalb eine hohe Hürde.
Level-One-Studie
Die Level-One-Studie hatte 2011 zum Ergebnis, dass über 14 Prozent der deutsch sprechenden, erwerbsfähigen Bevölkerung in Deutschland funktionale Analphabeten sind. Von diesen insgesamt 7,5 Millionen Menschen wuchsen 4,4 Millionen mit Deutsch als erster Sprache auf. In der Gruppe der Arbeitslosen ist ihr Anteil mit knapp einem Drittel hoch. 300 000 Menschen erreichen nicht einmal das unterste Level beim Lesen und Schreiben. Die Hälfte dieser Betroffenen hat keinen Schulabschluss. 13 Millionen Menschen haben gravierende Probleme mit der Rechtschreibung. Männer sind in Deutschland mit 60 Prozent insgesamt stärker betroffen als Frauen.