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Kitzingen gedenkt der Judenverfolgung


Autor: Gerhard Bauer

Kitzingen, Montag, 12. November 2012

 Seit Jahrzehnten gedenken die Menschen in der Großen Kreisstadt der Opfer der Pogromnacht und der Judenverfolgung. Jetzt wurden auch Teile einer Thora-Rolle an die jüdische Kulturgemeinde überreicht.
Vor rund 50 Gästen legte Bürgermeister Werner May einen Kranz an der Gedenktafel für die jüdischen Opfer nieder.  Fotos: G. Bauer


Die Gedenkstunde an die Pogromnacht von 1938, als Synagogen und jüdische Einrichtungen landesweit in Flammen aufgingen, stand in Kitzingens ehemaliger Synagoge unter einem ganz besonderen Eindruck, denn der Förderverein ehemalige Synagoge reichte mit einer alten Thora-Rolle ein Geschenk der ganz besonderen Art an die jüdische Kulturgemeinde in Würzburg weiter.
"Heute haben sich zwei Veranstaltungen miteinander verbunden, die Gedenkfeier und das Gebet in der Synagoge sowie die Überreichung einer alten Teil-Thora-Rolle", freute sich Rabbiner Jakov Ebert aus Würzburg. Er sah den Jahrestag der Ereignisse in der Reichskristallnacht 1938 unter besonderem Eindruck. Das Geschehen sei 74 Jahre her.

Im jüdischen Glauben stehe jede Zahl für einen Buchstaben, die beiden Zahlen sieben und vier stehen für das Wort Zeuge.
So seien die Bundestafeln des Volkes Israel Zeugen dafür, dass Gott das Volk nie verlasse, für das Versprechen, Gott immer treu zu sein. "Das haben wir in allen erlebten Schwierigkeiten durchgehalten", betonte Ebert.
Die Thora sei nicht nur ein Buch, es sei das Testament des israelischen Volkes, das mit 600 000 Zeichen geschrieben werde. 600 000 sei auch die Zahl derer, die im Alter zwischen 20 und 60 Jahren Ägypten verließen. Das habe all die Jahre Kraft gegeben, auch wenn Synagogen und Thora-Rollen verbrannten. Ein kleiner Rest sei geblieben, von den Thora-Rollen und vom Volk Israel.
Ebert versprach, den vorhandenen Teil der Thora-Rolle neben der vollständigen Rolle aufzubewahren. Über die Geschichte der Thora-Rollen erzählte der Kitzinger Familienforscher Michael Schneeberger. Er ging auch auf jene jüdischen Bürger ein, die solche Rollen geschrieben haben. "Eine Thora-Rolle ist wie ein Mensch, sie wird wie ein Mensch bestattet, wenn sie nicht mehr benutzbar ist", erklärte Schneeberger und erzählte vom Thora-Schreiber Josef Offer, dessen Eltern noch auf dem jüdischen Friedhof in Rödelsee bestattet wurden und der heute in einem Altenheim in Jerusalem lebt.
Die Deportation nach Izbica hat aus der Familie Offermann - so hieß Offer früher - niemand überlebt. Offer hat heute jedoch in Israel eine große Familie. Der Vater eines Pfarrers brachte aus Russland eine Thora-Rolle mit nach Mittelfranken, wo sich der Sohn und seine Ehefrau - beides ebenfalls Pfarrer - dazu entschlossen, die Thora-Rolle an den Förderverein Kitzingen zu geben. Fasst wortlos, so Fördervereinsvorsitzende Dagmar Voßkühler, habe der Sohn die Rolle übergeben.
"Die jüdische Gemeinde in Würzburg hat bereits eine große Thora-Rolle aus der ehemaligen jüdischen Gemeinde Heidingsfeld sowie eine weitere aus Urspringen", erklärte Schneeberger. Nun komme das Relikt aus der ehemaligen Sowjetunion hinzu.
"In Kitzingen war die Familie Jakob Schönfelder in der Marktstraße für die Thora-Rollen zuständig", berichtete Schneeberger. Schönfelders Ehefrau war eine Tochter von Justin Adler aus Urspringen, dem Dorf, aus dem die weitere Thora-Rolle der Würzburger Gemeinde stammt. Sie war von Justin Adler verborgen gehalten und den einmarschierenden Amerikanern übergeben worden, dann aber verschwunden.
Eine Thora-Rolle beinhaltet die fünf Bücher Mose, vergleichbar dem Alten Testament der christlichen Bibel. Den Zustand der Rolle beschrieb Schneeberger dahingehend, dass zwei der Bücher fehlen, eine Restaurierung aber viel zu kostspielig sei.
Thora-Rollen werden von Thora-Schreibern in monatelanger Kleinarbeit auf Pergament von koscheren Tieren mit koscherer Tinte und mit koscherer Feder geschrieben. Entsteht ein Schreibfehler, kann vorsichtig korrigiert werden oder die ganze mühselige Arbeit muss von vorne beginnen.
Nach einer Aufstellung in der Kitzinger Synagoge gab es 1908 neun Thora-Rollen, die meisten wurden von Kitzinger Juden gestiftet. 1938 waren es dann 13 Rollen, die wie viele andere Gegenstände dem Synagogenbrand und der Vernichtung zum Opfer fielen.
Im Gedenken an die Reichspogromnacht erinnerte zweiter Bürgermeister Werner May an 1938, als auch in Kitzingen die Synagoge brannte, an grauenhafte Bilder und Erinnerungen an gehetzte Menschen, Rudel von SA-Leuten und Nazis in zivil, die alles zerstörten was für jüdisch gehalten wurde. "Ein Alptraum für die jüdischen Bürger Kitzingens. Dieser Terror galt Menschen, die sich nie etwas zu schulden kommen ließen, die hier ihre Heimat hatten, die fleißig ihrem Handwerk nachgehen wollten, friedlich miteinander lebten und auch im Leben unserer Stadt eine bedeutende Rolle spielten", unterstrich May.
Das Novemberpogrom sei dabei erst der Vorbote des Gewaltausbruchs gewesen, der letztlich in die Gaskammern und Verbrennungsöfen in Auschwitz führte.
Das wahre Ausmaß sei erst durch Fragen der jüngeren Generation ans Tageslicht gekommen. Heute gedenke die Stadt mit Trauer und Scham des Holocaust, jedoch seien Antisemitismus und Nazi-Ideologie nicht mit dem Dritten Reich untergegangen. Vielmehr sei es beschämend feststellen zu müssen, dass Friedhöfe und Synagogen nach wie vor nicht vor Schändungen sicher sind, sondern in manchen Orten sogar öffentlicher Raum erobert wurde.