Druckartikel: Frühstück: Grauer Panther am Kindertisch

Frühstück: Grauer Panther am Kindertisch


Autor: Von Harald Meyer harald.meyer@mainpost.de

, Dienstag, 02. Dezember 2014

Wer mal die 60 überschritten hat, kennt sie, die Vergänglichkeit. Die wartet des Morgens schon im Bad. Im Spiegel, der den lebensgefährlichen Prozess zeigt, wenn eine scharfe Klinge in einem Faltenbergland graues Bartgewächs meuchelt. Und das auch noch vergebens: Auch ohne Gesichts-Gestrüpp wird das Antlitz nicht einen Prozentpunkt jugendlicher.


Wer mal die 60 überschritten hat, kennt sie, die Vergänglichkeit. Die wartet des Morgens schon im Bad. Im Spiegel, der den lebensgefährlichen Prozess zeigt, wenn eine scharfe Klinge in einem Faltenbergland graues Bartgewächs meuchelt. Und das auch noch vergebens: Auch ohne Gesichts-Gestrüpp wird das Antlitz nicht einen Prozentpunkt jugendlicher.

Wenig aufheiternd ist auch der normale Tag. Kollegen fragen bereits, wann denn der „wohl verdiente Ruhestand“ – das „endlich“ steht in stummer Klammer – beginnt. Werbeartikel, die formschöne Inkontinenzeinlagen und Rollatoren anpreisen, belagern zunehmend den Briefkasten. Und im Pflegeheim, dem mehrfach in der Woche mein Besuch gilt, sagte kürzlich eine Schwester: „Man sieht sich.“

Man sieht sich, ist übrigens auch nicht mehr das, was es war. Ohne Gleitsichtbrille geht für graue Panther gar nichts. Mit Gleitsichtbrille allerdings, am Morgen, vor besagtem Spiegel, ist es auch kein Zuckerschlecken: Jeder Korrosionsschaden im Gesicht springt dir in die müden Augen.

Doch genug geklagt. Solange die Füße noch viele Kilometer tragen, ist die Welt noch in Ordnung. Und wenn der Schoppen schmeckt, sowieso. Diese von den Geschmacksknospen gelenkte Erkenntnis durfte ich bei der Geburtstagsrunde einer lieben Freundin bemerken, die bei Silvaner, Spätburgunder und Co ihren 90. in einer Runde vorwiegend Gleich- oder Mehraltriger beging.

Nach dem Aufgalopp mit einem Gläschen Schampus, der die Stimmung des Seniorenkreises um Jahrzehnte verjüngte, kanalisierte besagte Dame ihre Geburtstagsschar an die vorgesehenen Tische. Und so blieb mir und vier weiteren Menschen-mit-Rentenausblick die fidele 90-plus-Runde verwehrt – wegen nachgewiesener Jugend: „Du bist U 70 und kommst mit an den Kindertisch.“