Kirchen-Macht und Sexualität
Autor: Ralf Dieter
Schwarzach am Main, Samstag, 08. Oktober 2016
Nach 25 Jahren als Recollectio-Leiter in der Abtei Münsterschwarzach sagt Wunibald Müller: "Ich werde es noch erleben, dass das Zölibat gelockert wird."
D as "Recollectio-Haus" im Kloster Münsterschwarzach ist bundesweit einmalig. Seit 25 Jahren kommen Priester und andere kirchliche Mitarbeiter in die unterfränkische Benediktinerabtei, um sich dort von einer beruflichen oder privaten Krise zu erholen. Dr. Wunibald Müller hat das Haus einst ins Leben gerufen. Vor kurzem hat er Abschied von seinem beruflichen Lebenswerk genommen.
Wie viele Menschen haben in den letzten 25 Jahren das Angebot des Recollectio-Hauses angenommen?
Dr. Wunibald Müller: Ziemlich genau 1600.
Was waren Ihre wichtigsten Anliegen in dieser Zeit?
Diesen Menschen in ihrer seelischen Not einen Raum anzubieten, der ihnen hilft. Psychotherapie und Spiritualität zu verbinden. Ein Nebenaspekt hat sich dabei ungeplant ergeben.
Wie meinen Sie das?
Unsere Gäste haben auch nach außen benannt, warum sie krank geworden sind. Themen wie Überforderung, Zölibat oder die marginale Rolle der weiblichen Mitarbeiter kamen so ins Rollen.
War die Einrichtung von Anfang an ein Erfolg?
Bis auf das erste halbe Jahr waren die Kurse immer alle ausgebucht.
Gab es keine Widerstände?
Es gab gewisse Vorbehalte nach dem Motto: Wenn es so ein Haus gibt, dann geben wir als katholische Kirche auch nach außen hin zu, dass wir Probleme haben. Es gab damals auch noch Vorbehalte gegenüber der Psychotherapie im Allgemeinen. Und es gab Befürchtungen, dass das Haus und seine Gäste einen negativen Stempel aufgedrückt bekommen. So wie es mit Lohr und Werneck ja leider der Fall ist.
Das hat sich aber nicht bewahrheitet.
Zum Glück, das Gegenteil ist der Fall. Ziemlich schnell hat sich in Kirchenkreisen herumgesprochen, dass die Zeit hier etwas Besonderes ist. Es ist ja auch ein Privileg, ein Vierteljahr in so einem Ambiente Auszeit nehmen zu können, um sich alle seine Sorgen und Nöte von der Seele zu sprechen. Das Recollectio-Haus hatte schnell ein positives Image.
Wie kamen Sie auf die Idee, so ein Haus zu eröffnen?
Ich habe erkannt, dass dieses Angebot notwendig ist. Ich war in der Diözese Freiburg zuständig für Priester in seelischer Not. Es gab damals nur zwei Möglichkeiten: Eine Vermittlung zum Therapeuten oder eine Auszeit in einem Kloster. Ich wollte diese wichtigen Bereiche miteinander verbinden. Die spirituelle Dimension und die Psychotherapie haben den gleichen Stellenwert in Bezug auf eine Heilung.
Was genau bedeutet für Sie Erfolg? Und wie kommt er zustande?
Erfolg heißt letztendlich Heilung. Die Gemeinschaft ist dafür essenziell. Ein Vierteljahr lang kommen hier 18 fremde Menschen zusammen. Sie essen zusammen, sie haben Zeit für gemeinsame Unternehmungen, sie beten. Sie leben intensiver zusammen als eine Ordensgemeinschaft. Eine Aufenthalt hier ist eine Gruppentherapie par excellence.
Aber das alleine kann doch nicht zu einer Heilung führen?
Daneben gibt es die psychotherapeutische Betreuung, Einzel- und Gruppengespräche. Und die spirituelle Dimension, die hier in Münsterschwarzach besonders ausgeprägt ist.
Gibt es so etwas wie einen typischen Fall? Oder ist jeder Gast in seiner Thematik individuell?
Je länger jemand hier ist, desto mehr zeigt sich, dass es immer wieder um die Annahme seiner Selbst geht. Um die Akzeptanz der eigenen guten und sogenannten schlechten Seiten. Die eigenen Schattenseiten anzunehmen, bedeutet Schwerstarbeit. Dabei helfen wir. Das intensive Zuhören kann dazu beitragen, dass Worte geboren werden, dass sich die Gäste öffnen. Ganz wichtig ist dafür eine Atmosphäre des Annehmens.
Sie werden dabei sicher auch mit ganz intimen und schwierigen Themen konfrontiert.
Wir sind alle keine Heiligen. Im Recollectio-Haus können die Gäste auch ihre dunkle Seite zeigen. Das ist aber nur dann möglich, wenn nicht moralisiert wird. Wenn niemand mit dem erhobenen Zeigefinger kommt. Empathie und bedingungslose Annahme sowie Echtheit sind ganz wichtig.
Warum nehmen so viele kirchliche Mitarbeiter das Angebot Ihrer Einrichtung an? Sind sie besonders anfällig für psychische Probleme?
Es gibt sehr viele hoch motivierte Mitarbeiter in der Kirche. Menschen, die mit viel Idealismus ihre Arbeit beginnen. Sie achten nicht auf ihre eigene Gesundheit, merken nicht, dass auch die Nächstenliebe ihre Grenzen hat. Diese Menschen übernehmen sich und kommen an einem Punkt nicht mehr alleine weiter.
Was können Sie diesen Menschen vermitteln?
Im Neuen Testament heißt es: Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst. Wir vermitteln das "wie dich selbst". Nur wenn ich mich selbst liebe und annehme, kann ich meine Arbeit so dosieren, dass ich sie zum Segen für mich und andere einbringe.
Das heißt: Die kirchlichen Mitarbeiter lernen hier, auf sich selbst zu achten?
Ja. Es gibt Priester, die sich ständig zurücknehmen, sehr bescheiden leben mit der Folge, dass sie ihr Potenzial nicht nutzen. Wir vermitteln ihnen, dass Hingebung etwas wunderbares ist, aber erst, nachdem ein Mensch zu sich selbst gefunden hat. Ein Verzicht ist ja nur dann ein Genuss, wenn ich weiß, was der Genuss bedeutet.
Bezogen auf die Sexualität heißt das, dass Priester diesen Genuss kennen gelernt haben sollten?
Nicht unbedingt. Aber die Entscheidung für das Zölibat sollte stimmig sein. Er entbindet die Priester nicht davon, beziehungsfähig zu werden. Es gibt Priester, die nicht beziehungsfähig sind, auch nicht bereit sind, sich den Mühen zu stellen, die damit einhergehen, ihre Beziehungsunfähigkeit mit dem Zölibat quasi selbst heilig sprechen. Tatsächlich laufen sie aber vor der Wirklichkeit davon.
Und dieser Wirklichkeit stellen sie sich im Recollectio-Haus?
Wir bieten den Rahmen dafür.
Was ist mit den Priestern, die sich dieser Wirklichkeit nicht stellen?
Die können ihren Beruf nur mit halbem Herzen ausüben. Im Leben gibt es für jeden Menschen wichtige Entwicklungsphasen. Die Pubertät und Entdeckung der Sexualität gehören dazu. Wer diese Phasen abkürzt und sich beispielsweise an menschlichen Beziehungen vorbei direkt in die Beziehung zu Gott begibt, verfügt über keine tragfähigen Beziehungen, was aber Voraussetzung dafür ist, um auf eine gesunde Weise zölibatär leben zu können. Wer fähig ist zu intensiven Gefühlen, zum Erleben und Genießen, und sich dann für Gott entscheidet, der kann auch mit vollem Herzen Priester sein. An den menschlichen Bedürfnissen vorbei lässt sich dieser Beruf nicht ausüben.
Wird dieser Gedanke in der Priesterausbildung beherzigt?
Es gibt eine Reihe von Priestern, die sich dieser Herausforderung gestellt haben. Augenblicklich gibt es aber kaum Männer, die diesen Beruf ergreifen. Wenn doch, gibt es eine gewisse Tendenz bei den angehenden Priestern, die sich in der Liebe zu äußerem Status und zur Liturgie zeigt. Diese neuen Priester haben natürlich Probleme mit Papst Franziskus.
Dem haben Sie im letzten Jahr einen Brief geschrieben, in dem Sie um die Aufhebung des Pflichtzölibats gebeten haben. Haben Sie noch Hoffnung, dass sich dieser Wunsch erfüllt?
Ich bin zutiefst überzeugt davon, dass sich etwas bewegt. Ich werde es noch erleben, dass eine Lockerung stattfinden wird.
Woher nehmen Sie diese Sicherheit?
Es gibt kaum jemanden, der so viele Gespräche über das Zölibat geführt hat wie ich. Mit Priestern und Bischöfen. In Deutschland und in Rom. Es sind tausende Informationen, die sich gebündelt haben. Meine Intuition sagt mir, dass es gar nicht anders sein kann.
Weil der Wunsch innerhalb der Kirche so mächtig wird?
Er ist schon mächtig, auch in der Bevölkerung. Die Bereitschaft einer großen Anzahl von Bischöfen ist jetzt schon da, auch wenn das nicht nach außen kommuniziert wird. Auch der Papst scheint mir bereit dafür.
Wie kommen Sie darauf?
Das neueste Schreiben des Papstes Amoris Laetitia birgt einen Satz, der mir Hoffnung gibt: Die Priester wissen recht wenig, was in den Familien abläuft, heißt es dort sinngemäß. Und: Wir könnten aus der Tradition der östlichen Kirchen lernen. Dort sind die Priester verheiratet.
Sie sind in 25 Jahren mit vielen Sorgen konfrontiert worden. Wie sind Sie selber damit zurecht gekommen?
Ich hatte tatsächlich Phasen, in denen es schwer war, auch wenn ich mir nie etwas vorgemacht habe, was die menschlichen Untiefen angeht. Dennoch: In diesem Ausmaß hätte ich sie bei den kirchlichen Mitarbeitern doch nicht erwartet.
Von welchen Untiefen sprechen Sie?
Ich nenne nur mal zwei Themenbereiche: Macht und Sexualität. Es gibt Führungskräfte, die innerhalb der Kirche gegen alle Gebote der Nächstenliebe verstoßen und nach außen ein ganz anderes Bild abgeben. Und die Sexualität ist nun mal eine Lebenskraft des Menschen, die in vielen Fällen nicht verantwortungsvoll angeschaut wird. Die im Dunkelraum lebt und unerlöst vor sich hin vegetiert.
Klingt nach viel Leid.
Wo Licht ist, ist auch Schatten. Und in der Kirche ist viel Licht.