inFranken-Reporterin im Blutegel-Selbstversuch
Autor: Katja Müller
Knetzgau, Freitag, 20. Dezember 2013
Blutegel, Schröpfen, Aderlass: Die mittelalterlichen Methoden haben Einzug in die moderne Medizin gehalten. Unsere Reporterin hat den Selbstversuch gewagt und sich von einem Blutegel beißen und aussaugen lassen.
So ein Blutegel ist schlauer als man denkt. Der schleimige Ringelwurm hat im Kollektiv beschlossen, keinesfalls und unter gar keinen Umständen bei der Reporterin anzubeißen. Dadurch sabotiert ein nur wenige Zentimeter großes Tierchen die gesamte Recherche.
Bereits zum fünften Mal muss Heilpraktiker Christian Beetz in ein großes Einmachglas voller Wasser greifen, an dessen Wänden Dutzende von Blutegeln kleben. "Schau'n wir mal ob wir einen aktiveren finden", sagt er.
Der Egel weckt Ekel
Mit einem Holzstäbchen erzeugt der 36-Jährige Wellen. "Wenn die Egel die Wasserbewegung spüren, lassen Sie sich fallen und schwimmen los", erklärt der Knetzgauer. Schwimmende Egel sind anscheinend leichter zu fangen als klebende.
So landet ein Tier nach dem anderen in der mit einem Gummihandschuh geschützten Hand des Heilpraktikers.
Erst Nummer sechs zeigt Format und beißt nach längerem Tasten und Schlängeln auf der vorher von Beetz bestimmten Stelle herzhaft zu. Aua! Ein kurzer Schmerz, dann saugt der Parasit mit großem Appetit das Blut seiner Wirtin in sich auf.
Der kleine Leib pumpt das aufgenommene Lebenselixier (Egel ernähren sich ausschließlich von Blut) gut sichtbar in den hinteren Körperbereich. Je nach Körpergröße und Hunger kann so ein Tier zehn bis 20 Gramm Blut aufnehmen und legt dabei bis zum Zehnfachen seines Körpergewichts zu. Während der "Blutegelmahlzeit" (ein Fachbegriff aus der Therapie) hält sich der Wurm mit zwei Saugnäpfen an seinem "Opfer" fest.
Die Menschen, die bei Christian Beetz Hilfe suchen, sind allenfalls Opfer ihrer Krankheit. Wer sich in der Knetzgauer Praxis Blutegel setzen lässt, erhofft sich Linderung bei Rückenschmerzen, Tinnitus, Entzündungen, Durchblutungsstörungen und Krampfadern.
"Der Blutegel erledigt mehrere Therapien in einem: Er leitet Giftstoffe aus und bindet entzündliche Stoffe", erklärt Beetz. Darum glauben mehr und mehr Menschen an die Kraft des kleinen Heilers, der für die meisten nach wie vor ein widerlicher Parasit ist.
Ein bis zwei Patienten
Ein bis zwei Patienten lassen sich pro Woche in der Knetzgauer Praxis mit dem "Hirudo medicinalis" (so der wissenschaftliche Name) behandeln. "Meistens sind das Menschen, die schon jahrelang Medikamente einnehmen. Andere haben Angst vor Spritzen oder einer weiteren OP und fragen nach alternativen Heilmethoden", sagt Beetz. Deutschlandweit kommen jährlich schätzungsweise 300 000 Blutegel zum Einsatz - das entspricht rund 50.000 Therapien.
Mit Blutegeln lässt sich gezielt Flüssigkeit absaugen, die sich in gequetschtem Gewebe oder unter einem Transplantat sammelt, weil sie den venösen Blutfluss anregen. Das Speichelsekret medizinischer Blutegel enthält etwa 200 Substanzen, darunter Hirudin, Calin, Histamin und verschiedene Egline. Offenbar wirken diese im Zusammenspiel gerinnungshemmend, gefäßerweiternd sowie schmerz- und entzündungsstillend. Beetz' Lebensgefährting Silvia Beer bietet in der Praxis - neben vielen anderen Naturheilverfahren - die Hirudotherapie auch für Tiere an.
Drei Kiefer beißen sich durch
Der Biss eines Blutegels ist nicht ohne: An seinem Vordersaugnapf befinden sich drei Kiefer mit je 60 bis 80 Kalkzähnchen, mit denen er in Sekundenschnelle die Haut durchsägt.
In freier Wildbahn wird ein Blutegel bis zu 30 Jahre alt und wächst etwa 15 Zentimeter in die Länge. Am liebsten tummeln sich die glitschigen Würmer in schlammigen Gewässern. Allerdings sind sie mittlerweile so selten, dass sie in Deutschland und anderen europäischen Ländern unter Naturschutz stehen.
In der Praxis von Christian Beetz leben die Tiere kürzer. Wenn sie nach ein bis zwei Stunden vollgesogen von ihrem Wirt abgefallen sind, setzt Beetz sie in einen mit Wasser gefüllten Behälter mit Schraubverschluss. Der kommt in die Gefriertruhe. Dort schlafen die wechselwarmen Tiere für immer ein.
Seine tierischen Therapeuten sammelt Beetz übrigens nicht in Teichen, sondern bestellt sie direkt beim Züchter. Die wiederum sind verpflichtet, bei den "medizinischen Produkten" gewisse Standards einzuhalten. "Der Blutegel ist ein Naturprodukt. Ich weiß nicht, wie gut er seine Sache macht", erklärt Beetz. Wie bei jeder medizinischen Behandlung gilt auch hier: Es gibt Risiken und Nebenwirkungen. Trotzdem wird das Tier mittlerweile auch in der Schulmedizin eingesetzt.
Blutegel Nummer sechs hat vorbildlich am Nacken der Redakteurin gearbeitet. Nach 50 Minuten ist der kleine Kerl vollgesogen und fällt ab. Ihn vor dem Ende seiner Mahlzeit gewaltsam abzulösen, wäre ein böser Fehler: Die Wunde könnte sich dadurch entzünden.
Mit einem dicken Pflaster auf der Wunde und Verbandszeug zum Wechseln (die Wunde blutet etwa zwölf Stunden nach) wird die Patientin schließlich nach Hause geschickt. Der Tag von Nummer sechs endet im Tiefkühlfach. Irgendwie tragisch: Mit dem Journalistenblut hätte der Egel bis zu einem Jahr satt und zufrieden weiterleben können.