Druckartikel: Erste Grüße kamen aus der Schweiz

Erste Grüße kamen aus der Schweiz


Autor: Sabine Weinbeer

Unterschleichach, Sonntag, 11. Juni 2017

Der junge Moritz Spiegel aus Unterschleichach ist nun seit einem Jahr auf der Walz. Demnächst könnte der Schreiner in Finnland landen.
Die erste Postkarte des Wandergesellen zeigt Moritz Spiegel vor einem Schweizer Gletscher. Der nächste Weg wird ihn im August nach Finnland führen.  Fotos: Sabine Weinbeer/Archiv/privat


Im Esszimmer von Familie Spiegel in Unterschleichach steht der "Familienbaum". Daran hängen Postkarten und Bilder - die meisten zeigen einen jungen Mann in "Kluft": Sohn Moritz, der vor einem Jahr auf Wanderschaft ging, auf die Walz. Das halbe Dorf war auf den Beinen, als der 19-jährige Schreiner am 6. Juni 2016 über das Ortsschild kletterte und in Begleitung von fünf älteren Gesellen davonzog. Vorher gab es noch viele Umarmungen, aber dann keinen Blick zurück.

"Wir waren erst einmal total erschöpft, haben daheim aufgeräumt und sind dann ins Bett", erinnert sich Mutter Gabi Spiegel an den restlichen Tag vor einem Jahr. Am Vorabend war in Scheune und Hof der Spiegels ein großes Fest. Schulkollegen, Nachbarn, Freunde, Arbeitskollegen feierten bis in den Morgen den Abschied von Moritz - mindestens bis 2019.

Drei Jahre und einen Tag, so lange dauert die Walz mindestens. Länger geht immer - und Moritz kokettiert derzeit auch mit einer längeren Zeit. Sein "Stenz", der typische Stock der Wandergesellen, hat mehr als drei Windungen "und jede Windung steht für ein Jahr", erzählte er, als unser Portal dieser Tage mit ihm telefoniert hat. Ein Jahr ist er nun unterwegs.

Gabriele und Karl Spiegel hatten damals eine turbulente Woche hinter sich, die Wandergesellen, die Moritz auf den Weg brachten, waren schon einige Tage früher angereist. Export-Geselle Ralle hatte noch dafür gesorgt, dass alle Formalitäten erledigt werden und dann plötzlich war es so still im Haus. Nach einigen Tagen sei das erst richtig aufgefallen, erinnert sich Gabi Spiegel. Zu viel Essen gekocht, auf die Uhr geschaut, wo er denn bleibt. Schwester Sarah, ihrem Bruder sonst in herzlichem Geschwisterzwist verbunden, fühlte sich ein bisschen allein im Dachgeschoss, ließ die Tür zu Moritz' Zimmer offen und nahm seine Katze mit hinauf.

Fünf Wochen lang dürfen sich junge Wandergesellen gar nicht melden, doch dann das erste Lebenszeichen: In der Heute-Sendung wurden zwei Wandergesellen zum Brexit interviewt. Einen davon kannte man im Steigerwald. "Da haben mich mehrere Unterschleichacher angerufen, dass sie den Moritz im Fernsehen gesehen haben und einer hat uns den Mitschnitt dann auf Stick gebracht. So ein Zufall: Unser Moritz in den Nachrichten". Dann der erste Anruf. Er hatte Arbeit in der Schweiz und den Stapler-Führerschein vergessen. Der ging flugs auf die Post. In der Schweiz habe er nur nette Leute getroffen, schreibt er auf der ersten Karte, die kam.

Moritz wählt immer ein Foto von sich oder mit Kollegen aus, lässt eine Postkarte herstellen und schreibt die dann nach Hause. Vor einem Gletscher steht er in seiner Kluft. Das waren noch Hose und Weste von der "Stange", mit denen er loszog. Bis Weihnachten ließ er sich in der Schweiz eine maßgeschneiderte anfertigen. Beim "Gurtenfestival", einem großen Schweizer Musikfestival, sorgte er mit anderen Wandergesellen für Auf- und Abbau. Nach Aufenthalten in Gstaad und Zürich ging es wieder zurück nach Deutschland. Nach Hannover, Berlin und Göttingen, wo er unverhofft einen alten Schulkollegen wiedertraf, der mittlerweile mit seiner Freundin dort lebt.

In einem Bestattungsinstitut hat der junge Schreiner einen Nussbaumschrank für Urnen hergestellt, bei einer Familie in Effeln ein Haus aufgerichtet und den Schmuckbalken über dem Eingang gestaltet. Die Gastgeberin dort wollte, dass jeder Geselle, der bei ihr arbeitete, mal was Typisches für seine Heimat kocht. Und so war Gabi Spiegel wieder einmal auf der Post, gab ein großes Paket auf. Drin gut vakuumiert: Bratwürste, Rippli, von Oma Renate vorgekochtes Sauerkraut - und ein Laib Brot vom Unterschleichacher Bäcker.

Mehrfach hat die Familie den Wandergesellen mittlerweile getroffen, zuletzt für die Taufe von Lennox. Lennox ist das Patenkind von Moritz. Die Schwester von Gabi Spiegel brachte ihn im September letzten Jahres auf die Welt und dann war die Frage zu lösen, wie die Taufe und die Walz zusammengebracht werden können. Die Lösung: Getauft wurde in Oberstdorf, wo oft Familien-Urlaub war. Moritz nahm sich eine Woche Urlaub, der Rest der Familie auch und so hatte Gabi Spiegel an Muttertag beide Kinder bei sich. Schwester Sarah setzte sich schon im letzten Jahr in den Zug, ganz allein, um ihren großen Bruder zu besuchen. Anfang April ergab sich dann ein Treffen in Bornheim. Sarah, die Basketball spielt, hatte ein Auswärtsspiel dort, wo Moritz derzeit beschäftigt ist, fast auf halber Strecke zwischen Köln und Bonn. So "sattelte" Familie Spiegel das Wohnmobil und fuhr übers Wochenende nach Bornheim.


Ein Holzhaus errichtet

Zuletzt hat Moritz an einem Holzhaus mitgebaut, das ihn im August nach Finnland bringt. Es ist nämlich das Ferienhaus einer Architektin. Die bezahlt den Flug nach Finnland für die Wandergesellen, denn die dürfen für ihr Fortkommen ja kein Geld ausgeben. Sie werden in Finnland also das Haus aufbauen und dann vermutlich eine "Tour" anschließen - aber ob das so stattfindet, wird man sehen.

Gabi Spiegel hat sich schon daran gewöhnt, dass Wandergesellen nicht sehr langfristig planen. Sie lässt sich überraschen, wo ihr Sohn noch so überall hinkommt. Anfangs sorgte sie sich noch um ihren Buben, doch sehr schnell hat sie gemerkt, dass Moritz in der Gemeinschaft der Wandergesellen gut angekommen und inzwischen auch sehr erwachsen geworden ist.

"Und die Menschen sind auch sehr aufgeschlossen und fürsorglich. Arbeit und Unterkunft zu finden, ist offenbar kein Problem", freut sie sich. So kann er auch immer wieder anrufen, oder sich per Mail oder Facebook melden, wenn ihn ein Arbeitgeber ins Internet lässt.

"Wir haben uns angewöhnt, auch bei fremden Handynummern spätabends ranzugehen, denn oft lässt ihn jemand telefonieren, den er beim Feierabend-Bier kennengelernt hat." Und so wird er sich sicherlich auch aus Finnland melden und bestimmt wird auch ein skandinavisches Motiv demnächst den Familienbaum am Essplatz schmücken.