Ein Jahrhundert voller Hochs und Tiefs für Zeil
Autor: Sabine Weinbeer
Zeil am Main, Donnerstag, 15. November 2018
Christoph Winkler beleuchtete im letzten von vier Geschichtsvorträgen die Zeit von 1918 bis 2018 in der Stadt Zeil.
Hundert Jahre voller Hochs und Tiefs für die Stadt Zeil und ihre Bewohner beleuchtete Christoph Winkler im letzten der vier historischen Vorträge, die im Zuge der 1000-Jahr-Feier für Zeil die Geschichte der Stadt lebendig werden ließen. Große Not, aber auch Wirtschaftswachstum, aufstrebende Firmen und ihr Niedergang - der Rückblick war für viele ein Wechselbad der Gefühle. Die Stadt Zeil wuchs in dieser Zeit um das Vierfache ihrer einstigen Größe an. Flüchtlinge, Vertriebene, aber auch Beschäftigte der Industriebetriebe wie der Zuckerfabrik sorgten für ständige Bautätigkeit.
"Vergangenheit hat Zukunft", mit diesem Zitat kommentierte Bürgermeister Thomas Stadelmann den Umstand, dass das Rudolf-Winkler-Haus auch diesmal wieder voll besetzt war, obwohl noch mehr Stühle aufgestellt wurden. Fast 360 Zuhörer lauschten den Ausführungen von Altbürgermeister Christoph Winkler, die mit dem Ende des Ersten Weltkrieges begannen. 50 Gefallene hatte Zeil zu verschmerzen, viele Kriegsteilnehmer waren traumatisiert, Armut regierte. Der Stadtrat unter dem Bürgermeister Nikolaus Drebinger überlegte sogar, das Heiratsalter auf 25 hochzusetzen, weil sich viele junge Leute eine Heirat ohnehin nicht leisten konnten.
Trotz knapper Mittel kam 1921 die Elektrizität nach Zeil. Oskar Winkler, Großvater von Christoph Winkler, damals Zweiter und später Erster Bürgermeister, streckte privat Geld für die Kupferkabel vor und so legte Zeil den Grundstein für das eigene Stadtwerk. 6700 Kilowattstunden Strom wurden damals von zwei Transformatorenstationen verarbeitet. "So viel verbrauchen heute zwei Familien im Jahr", rechnete Christoph Winkler vor. Die Inflation galoppierte. Der städtische Nachtwächter verdiente 1920 drei Mark, drei Jahre später 1500 Mark. Wer 1920 gebaut hatte, konnte allerdings drei Jahre später problemlos sein Darlehen tilgen. Die meisten verloren jedoch massiv Vermögen. In seiner eigenen Amtszeit als Bürgermeister fand sich ein städtisches Sparbuch von 1923 mit einem Guthaben von sage und schreibe 36,5 Billionen Mark. "Alle Versuche, dieses Geld abzuheben, scheiterten allerdings", sagte er schmunzelnd. Nicht nur in den Notzeiten nach den Weltkriegen hätte Zeil das Geld gut brauchen können.
Inflation und Arbeitslosigkeit beförderten die Radikalisierung der Wähler, die in Zeil allerdings nicht so stark ausfiel wie im Landesdurchschnitt. 1925 wurde die evangelische Kirche in Zeil eingeweiht, nach dem Tod von Nikolaus Drebinger wurde Oskar Winkler Bürgermeister. Er nutzte Maßnahmen, die der Arbeitslosigkeit entgegensteuerten, und baute die Marienschule mit acht Klassensälen, Küche und einem Bad mit 20 Brausen. "Vorher wurde immer nach Läusen gesucht", erinnerte sich Winkler an eigene Badezeiten dort. Sein Vater Rudolf Winkler baute 38 Jahre später das Atrium-Gebäude der heutigen Mittelschule und weil dann die Ganztagsschule dazu kam, "durfte ich als Bürgermeister die Familientradition fortsetzen und auch eine Schule bauen".
Auch die Kinderbewahranstalt wurde während der Weltwirtschaftskrise gebaut. Die Nazis gewannen an Boden, nach Hitlers Machtergreifung gab es bald die ersten Festnahmen, darunter auch Stadtpfarrer Dümler und die Stadtratsmitglieder der Bayerischen Volkspartei. Die Bahnhofstraße wurde Adolf-Hitler-Straße, der Marktplatz Ritter von Epp gewidmet. Viele Vereine, darunter der Arbeitergesangverein Liederkranz und die Naturfreunde, wurden verboten. Die jüdische Gemeinde hatte sich schon in den 1920er Jahren aufgelöst, so kam es nicht zur Ausschreitung gegenüber jüdischen Mitbürgern. "Aber auch die Zeiler Geschichte zeigt, wie sich eine Demokratie auflösen kann. Und es ist die Vorlage für Erdogan und andere. Wir müssen wachsam sein", mahnte Winkler.
Weil die Zeiler Brunnen oft bakterienverseucht waren, die Kindersterblichkeit deshalb mit 50 Prozent außerordentlich hoch war, gründete Zeil den ersten Wasserzweckverband mit Ebelsbach. Im Zweiten Weltkrieg produzierte die Firma Bosch in der Weberei Erba, 150 ukrainische Zwangsarbeiterinnen waren dort eingesetzt. 160 Zeiler fielen im Krieg, die Glocken des Käppela wurden für Kriegszwecke eingeschmolzen - deshalb sind die heutigen Glocken aus Stahl.
Am 16. April 1945 fielen 500 Brandbomben auf Zeil, 68 Häuser wurden beschädigt oder zerstört. Sehr überflüssig sei die Sprengung der Zeiler Mainbrücke gewesen, als die Amerikaner bereits über die Hohe Wann zogen. Bürgermeister Weinig übergab die Stadt und die Deutsch-Amerikanerin Frieda Goger konnte dank ihrer Sprachkenntnisse verhindern, dass das Käppela als vermuteter Nazi-Unterschlupf beschossen wurde.