Druckartikel: Wie Literaten das eigentlich Unsagbare sagen können

Wie Literaten das eigentlich Unsagbare sagen können


Autor: Alfred Thieret

Lichtenfels, Freitag, 09. Oktober 2015

von unserem Mitarbeiter Alfred Thieret Lichtenfels — Wenn es um die Thematik Holocaust gehe, dann sei die ehemalige Synagoge wohl der richtige Raum, meinte der CHW-Bezirksgruppenle...
Julia Schöll


von unserem Mitarbeiter Alfred Thieret

Lichtenfels — Wenn es um die Thematik Holocaust gehe, dann sei die ehemalige Synagoge wohl der richtige Raum, meinte der CHW-Bezirksgruppenleiter Gerhard Schmidt bei der Vorstellung der Referentin, Privatdozentin Julia Schöll von der Germanistikabteilung der Universität Bamberg und deren Vortragsthema "Das Unsagbare sagen - die Literatur und der Holocaust".
Schöll befasste sich mit der Frage, welche Wege die Literatur findet, etwas mit künstlerischen Mittel darzustellen, das als undarstellbar gilt. Den Fokus legte sie vor allem auf Texte der Gegenwartsliteratur, die das Thema Holocaust aus großer zeitlicher Distanz behandeln.
Das literarische Sprechen über den Holocaust sehe sich heute umstellt von verschiedenen, vielfach widersprüchlichen Anforderungen, die aus dem literarischen und literaturwissenschaftlichen Diskurs selbst, aber auch von außen, von der Gesellschaft an das Sprechen über den Holocaust herangetragen würden, betonte Schöll.
Den Ausgangspunkt dieser Debatte über die Darstellbarkeit oder Nichtdarstellbarkeit des Grauens der NS-Zeit bilden demnach zwei wichtige Paradigmen. Wenn es nach Vertretern der ersten Generation der Holocaust-Überlebenden ginge, dürfe der Holocaust eigentlich nur dokumentarisch und nicht fiktionalisiert, also nicht in Form erfundener Geschichten verarbeitet werden. Dieses Verbot habe aber schnell seine Wirksamkeit verloren, da es durch Holocaust-Überlebende selbst gebrochen wurde. Als prominentestes Beispiel nannte sie den Literatur-Nobelpreisträger Imre Kertész, der in seinem 1975 publizierten "Roman eines Schicksallosen" den Holocaust aus der Sicht eines fiktiven Kindes erzählt.


Holocaust als große Erzählung

Nie sei es so einfach gewesen, über den Holocaust zu schreiben und gleichzeitig so kompliziert, meinte die Dozentin. Einerseits sei die Hochphase der pädagogischen Beschäftigung mit dem Holocaust in den 80er und 90er Jahren lange genug vorbei, andererseits hätten sich die Regeln der "political correctness" für das Thema nicht gelockert. Der jüdische Autor Maxim Biller habe dies mit dem sarkastischen Kommentar versehen: "Der Holocaust ist zu einer zentralen ,Meistererzählung' der Deutschen geworden, zu einer großen Erzählung, aus der die Gemeinschaft einen bedeutsamen Teil ihrer Identität ableitet."
Nach dem anderen Mythos des Diskurses sei der Holocaust an und für sich undarstellbar, er habe die Kunst an sich unmöglich gemacht. So habe der Kulturphilosoph Theodor W. Adorno (1903-1969) den berühmten Satz geschrieben: "Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch." Adorno gehe es dabei nicht um ein Verbot von Literatur und auch nicht um die Behauptung, dass der Holocaust mit den Mitteln der Kunst und Literatur nicht darstellbar sei, sondern vielmehr um ein unablässiges "Sich-bewusst-Machen" der Verhältnisse, in denen sich Literatur bewegt, konstatierte die Referentin.


Wurde schon zu viel geschrieben?

Literatur dürfe und solle nach Auschwitz nie wieder so tun, als wüsste sie von nichts. Es gebe bis heute sehr viel Literatur, die dieses Diktum ernst nehme, und es gebe immer noch sehr viele literarische Texte über den Holocaust. Die heutige Literatur sehe sich aber mit dem Problem konfrontiert, dass scheinbar schon zu viel über den Holocaust geschrieben wurde.
Wichtiger als die Stellungnahme zum Paradigma der Undarstellbarkeit des Holocaust sei heute die Positionierung der Literatur gegenüber dieser Flut an Bildern. Wie gegenwärtige Texte das "Schreiben nach Auschwitz" angehen, zeigte Julia Schöll an einigen Beispielen auf.
So würden Ruth Klügers 1992 veröffentlichte Memoiren "weiter leben" aus der Fülle an Erinnerungsliteratur durch den Grad der Reflexion herausragen. Das Buch sei ein Bestandteil der Holocaust-Literatur geworden, stelle aber zugleich einen kritischen Text über das Funktionieren der Holocaust-Literatur dar. Das Werk habe auf diese Weise für das Schreiben über den Holocaust neue Maßstäbe gesetzt.