Druckartikel: Wandern macht frei und glücklich

Wandern macht frei und glücklich


Autor: Rudolf Görtler

Höchstadt a. d. Aisch, Freitag, 22. April 2016

Christine Thürmer hat Zehntausende von Kilometern zurückgelegt - zu Fuß. In Höchstadt erzählte sie davon und wie sie ihr Leben komplett umgekrempelt hat.
Christine Thürmer mit ihrem Buch, in dem sie über ihre insgesamt 12 700 Kilometer langen Wanderungen in den USA berichtet  Foto: Rudolf Görtler


Rudolf Görtler

33 Kilometer am Tag durch Wüste oder Hochgebirge, Hitze, Kälte, Regen, Grizzlybären, verschmutztes Wasser, Dreckschichten auf der Haut, eine Ernährung, die sich im Wesentlichen auf Müsli und Tütengerichte beschränkt: Warum tut man sich das an? Ja, warum fristet man fast sein ganzes Leben so?
Das ist die Frage, die sich wohl jeder der knapp 100 Zuhörer am Mittwochabend im "Wigwam" stellte, dem Outdoor-Laden Markus Thomäs. Zusammen mit Elke Reitmayer von der Höchstadter "Bücherstube" hatte er Christine Thürmer eingeladen, eine Frau, die vermutlich so viel gewandert ist wie kaum ein Mensch auf der ganzen Welt. Die gebürtige Forchheimerin, 48 Jahre alt, präsentierte ihr Buch "Laufen. Essen. Schlafen. Eine Frau, drei Trails und 12 700 Kilometer Wildnis", das sich, eben erschienen, sehr gut verkaufen soll.
Fast ein Heimspiel also für Thürmer, die in Berlin lebt und aus dem Buch nicht las, sondern den Inhalt zusammenfassend vortrug. Dabei liegen die Langstreckenwanderungen, die "Trails", die sie in dem Buch beschreibt, schon einige Jahre zurück. Es waren drei insgesamt: der Pacific Crest Trail an der Westküste der USA von Mexiko bis Kanada, der Continental Divide Trail durch die Mitte der USA entlang der Wasserscheide zwischen Pazifik und Atlantik und der Appalachian Trail an der Ostküste der USA von Maine nach Georgia. Alle drei hat die Wanderin absolviert, die sich selbst als unsportlich bezeichnet, jedoch augenscheinlich über eine kräftige Konstitution verfügt.
Was motiviert jemanden, gut bezahlte Tätigkeiten im Unternehmensmanagement aufzugeben, um mit weniger als sechs Kilo Gepäck zwar atemberaubende Landschaften zu erleben - sie zeigte 100 Fotos davon -, aber sich gleichzeitig Regen, Frost, Schmutz und Klapperschlangen auszusetzen? Es war eine Kündigung, die die Autorin erschütterte, und das Schicksal eines Yuppie-Freunds, der im besten Alter erkrankte und starb. Ihre Konsequenz: "Die wichtigste Ressource ist Lebenszeit", sie stieg "um, nicht aus".
Um schließlich die Triple Crown zu erwerben, die Urkunde für die Bewältigung aller drei amerikanischen Fernwanderwege, 400 Höhenkilometer, dabei 180 Kilo Schokolade verzehrt, 112 Kilo Müsli und zehn Paar Schuhe durchgelaufen. Seither setzt sie das unstete Leben fort, wandert, fährt mit dem Rad, paddelt - in Europa und auf der ganzen Welt. Seit 2008 ist sie "technisch gesehen obdachlos", ein Zustand, der sie doch ein bisschen ängstigt(e), wie sie zugab.


Ohne Blasen 12 700 Kilometer

Von Fährnissen blieb sie verschont, sie erkrankt nur bei ihren Heimataufenthalten, sagte sie. In den USA lief sie sich nicht einmal Blasen, sie wurde nicht überfallen, die Bären ließen sie unbehelligt, von freiwilligen Helfern, den Trail Angels, ist sie begeistert. Am interessantesten waren die Phasen ihrer Erzählung, in denen sie Einblicke in die Individualpsychologie einer solchen Existenz ermöglichte. Was macht das Leben im Zelt, "schlafen, essen, kochen im Dreck" erträglich, ja lebenswert? Es ist die Loslösung von materiellen Bedürfnissen, sagte Thürmer, die Reduktion auf Wasser, Essen, Wärme und Wetterschutz. Das erzeuge ein direktes körperliches Glücksgefühl, für das z. B. eine warme Dusche, ein reichliches Essen (Fast Food!) genügen. Und: die Loslösung von sozialen Bedürfnissen. So könnte man einen gewissen Solipsismus definieren, der sich bei ihrer Lebensweise einstellt: "Ich schätze die Gesellschaft anderer Menschen sehr, aber ich brauche sie nicht mehr."
Ausführlich sprach sie auch über den "Flow", der sich beim Langstreckenwandern einstelle, diesen "Zustand völligen Aufgehens, der Konzentration". Ganz abgesehen von der Logistik, die solche extremen Vorhaben erfordern und wofür sie ihr früheres Leben qualifiziert hat. Viele Fragen aus dem großen Publikum beantwortete sie und schloss mit ihrem Lebensmotto: "Wandern macht frei und glücklich." Übrigens: Die gefährlichsten Tiere sind nicht Bären, sondern Zecken.