Druckartikel: Tradition trifft Extravaganz

Tradition trifft Extravaganz


Autor: Christiane Lehmann

Coburg, Donnerstag, 24. Oktober 2019

Der Trend geht zum individuellen Grabstein. Steinmetz Siegfried Speer spricht über Gestaltungsspielräume und besondere Herausforderungen.
Fotos: Christiane lehmann


Im ersten Moment war Elisabeth Pötzl selbst überrascht. Als sie zum Grab ihres Mannes kam, ragte der zwei Meter fünfzig hohe Schieferstein in den Himmel, die Silhouette ihres Mannes überlebensgroß detailgetreu herausgefräst. Die Sonne schien durch die Umrisse und durch die Tiefe des Steins entstand eine ungewöhnliche Dreidimensionalität. "Der Stein erschien zunächst so gewaltig, anders als die Skizze auf dem Bildschirm", sagt sie, "doch sehr bald wirkte auch die Aussage der Darstellung, nämlich der Austritt der Geistseele aus der feststofflichen Materie zurück in das Licht, als feinstoffliche Energie, die uns umgibt."

Wertschätzung

Den Entwurf dafür hatte die Witwe und Künstlerin Elisabeth Pötzl selbst gemacht. Rechtzeitig zum dritten Todestag von Michael Pötzl (ehemaliger Präsident der Hochschule Coburg) hatte Steinmetz Siegfried Speer zusammen mit seinen Söhnen - ebenfalls Steinmetze und Steinbildhauermeister - den Grabstein aufgestellt. Pflanzen, Wege und Rasen schienen davon völlig unberührt - zumindest nachdem die Arbeiten abgeschlossen waren.

Für Siegfried Speer ist das seine Art der Wertschätzung gegenüber einem Grab, dem Toten und seinen Angehörigen. Seit vier Generationen wohnen und arbeiten die Speers am Friedhof. Sie wissen um das Leid, die Trauer und Empfindlichkeiten der Menschen. Wissen um den psychischen Stress, wenn Angehörige meist nur wenige Tage nach dem Tod entscheiden müssen, wann, wo und wie der Mensch beigesetzt werden soll. "Da braucht es Fingerspitzengefühl und gute Berater", weiß Speer aus Erfahrung.

Entgegen dem Trend, dass immer mehr Menschen eine anonyme Beisetzung wünschen oder gern auf der grünen Wiese beerdigt werden möchten, sind die Auftragslisten von Speer voll. "Wer sich heute für ein Grab entscheidet, setzt sich viel bewusster damit auseinander als früher", sagt er. Auch die Gestaltung sei individueller geworden. Katalogware und Schriftmusterbücher sind aus der Mode gekommen. "Der Trend geht zum Individuellen", ergänzt auch Sohn Jonas. Der 25-jährige Steinmetz ist leidenschaftlicher Natursteinsammler. Grabsteine aus verschiedenen Steinmaterialien, mit Glas oder Edelstahl kombiniert, sei zurzeit sehr gefragt. Aus der Mode gekommen sind hochpolierte Basaltsteine mit Frakturschrift.

Zeit nehmen

"Die Ansprüche sind gewachsen", stellt Siegfried Speer fest und betont dabei, dass jeder bei ihm offene Türen einrennt, der sich etwas Extravagantes wünscht. So wie Elisabeth Pötzl. Sie selbst würde es auf keinen Fall extravagant nennen, aber etwas Besonderes, gegen den Mainstream wollte sie schon. "Was hatte ich da für ein Glück, auf zwei so leidenschaftliche, einfühlsame Handwerker wie Vater und Sohn Speer gestoßen zu sein", sagt sie. Beide hatten sich in mehreren Gesprächen Zeit für sie genommen, um den richtigen Stein auszusuchen, den Entwurf zu konkretisieren und die Verarbeitung zu planen - immerhin musste ein Partnerunternehmen gefunden werden, das die Silhouette ausschneiden kann.

Neues Kunstverständnis

Was sich früher in einer Stunde hat klären lassen, bedürfe heutzutage schon mehrerer Termine, berichtet Siegfried Speer. Doch die Auseinandersetzung mit der Geschichte, dem Leben und der Materie sei eben auch das Spannende an seiner Arbeit. Zeugen davon stehen im Vorhof seines Betriebs am Hinteren Glockenberg: Steine zwischen Tradition und Moderne, geschliffen, poliert, beschlagen, bemalt oder begrünt, erzählen von Schicksalen, vom Abschiednehmen und auch von Hoffnung.

So leuchtet vor der schwarzen Granitplatte eine rote Sandsteinsäule mit der Aufschrift "Wandlung ist nötig wie die Erinnerung der Blätter im Frühling". Oben drauf sitzt ein offenes Maßwerk. Sohn Jonas hat es mit Hand her-ausgearbeitet.

Das Objekt war nach einem bundesweiten Auswahlverfahren auf der Bundesgartenschau in Heilbronn ausgestellt. Jetzt hat sich ein Mann aus Tübingen gemeldet, der dieses "Grabmal" in kleinerer Ausführung auf dem Urnengrab seiner Frau aufstellen möchte. Wie gesagt, Nullacht-fünfzehn ist out. Von einem neuen Kunstverständnis spricht Elisabeth Pötzl.

Und trotzdem sind es oft die klassischen Steine, die vermoosten Engel, die am Friedhof unsere Blicke lenken. Auch die Speers halten ihren alten Fami-lienstein mit der in Gold gemalten Rose in Ehren. "Unverkäuflich", sagt Siegfried Speer stolz auf Großvaters Handarbeit inmitten all der neuen Modelle.