Druckartikel: Stummer Schrei nach Erlösung

Stummer Schrei nach Erlösung


Autor: Wolfgang Schoberth

Kulmbach, Freitag, 10. Sept. 2021

Kunst  Christian Straßburger, der Neffe von Michel Weiß, ist als Maler und Grafiker vergessen. In seinem kurzen Leben hat er suggestive Grafiken hinterlassen. Einige davon sind jetzt in Kulmbach zu sehen.
"Aufsteigende Frau" - ein Bild der Hoffnung und der Utopie: Der Mensch erhebt sich aus seinem Dasein zum Licht empor.


"Am 8. Januar ist im Alter von 46 Jahren und 11 Monaten Herr Christian Straßburger, Kaufmann in Mexiko-City, verschieden. Er wurde ein Opfer der Typhusepidemie, die die Stadt heimgesucht hat." So liest man 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, in den Kulmbacher Blättern. Die Zeitungen sind täglich mit Gefallenen-Anzeigen gefüllt, doch diese Nachricht muss die Bevölkerung besonders erschüttert haben. Denn die junge Witwe Albertine Straßburger, die mit ihrem achtjährigen Sohn allein dasteht, ist die Schwester des Malers Michel Weiß.

Christian, der 1908 in Mexico geboren wurde, doch bei Ausbruch des Krieges von seiner Mutter nach Kulmbach gebracht wurde, besucht zu diesem Zeitpunkt die zweite Klasse der Oberen Schule. Wie sein Jugendfreund Ludwig Popp 1972 im Rückblick beschreibt, ist "der Mexikaner" ein wilder, vor grenzwertigen Einfällen sprudelnder Bursche, der seinen Klassenkameraden mit zirkusreifen Balancier- und Kletterakten imponiert. Man mag darin väterliches Erbgut sehen: Seinem Vater Christian Karl Straßburger ist das provinzielle Kulmbach, in dem seine Eltern am Marktplatz ein Kaufhaus haben, zu eng. Ihn zieht es in die weite Welt - Marseille, London, Málaga - schließlich Mexiko City, wo er eine Hutfabrik aufbaut.

Michel Weiß ersetzt den Vater

Nachdem sie mit 34 Jahren Witwe geworden ist, wird die Beziehung Albertines zu ihrem Bruder noch enger. Für den Buben ersetzt Michel Weiß den Vater. Weiß selber hat zwei uneheliche Kinder aus seiner Münchner Studienzeit, "die bis ans Lebensende konsequent verdrängt werden" (Hans Stößlein), bleibt jedoch unverheiratet. Christian sieht ihm häufig in seinem Atelier (Oberhacken 6) zu. Trotz der mageren und unsicheren Einnahmen seines Onkels muss er früh den Entschluss gefasst haben, auch freischaffender Künstler zu werden.

An der Kulmbacher Realschule legt er die Mittlere Reife ab, in Bayreuth 1927 das Abitur. Danach schreibt er sich an der Kunstakademie in München ein. Anders als seinem Onkel gilt sein Interesse nicht der Malerei, sondern der Grafik. Doch dort erlebt er schon bald, wie die Kunst durch die Politik bedroht ist: sein Lehrer, Professor Richard Klein, ist zwar eine Koryphäe im Holzschnitt und in der Kunst der Radierung, doch er ist zugleich ein überzeugter Nazi, der nach der "Machtergreifung" Karriere macht. Er steigt zum Direktor der Hochschule auf und wird später von Hitler und Goebbels später auf die sogenannte Gottbegnadeten-Liste gesetzt.

Christian geht schon im Mai 1930 von München weg, setzt sein Studium in Nürnberg und schließlich 1932 in Berlin fort. Die Begegnung mit der expressionistischen Kunst Ernst Barlachs ist stilprägend für seine Arbeiten. Es sind überwiegend hart konturierte Schwarz-Weiß-Holzschnitte, die in ihrer vereinfachten Formensprache große, starke Gefühle zum Ausdruck bringen.

Tragik nimmt kein Ende

Als Straßburger nach Kulmbach zurückkehrt, muss er erfahren, dass seine Bilder unverkäuflich sind. Sensible Kunst hat in den Krisenjahren keinen Platz: Viele sind arbeitslos, müssen sehen, wie sie durchkommen. Aufmärsche, Hurra-Geschrei, Geisttötung durch Kitsch und Propaganda - für eine Anpassung an den Zeitgeist und die NS-Machthaber, wie man sie zum Beispiel bei Lorenz Reinhard Spitzenpfeil beobachten kann, gibt er sich nicht her. Er verbittert, fällt in Depression. 1937 versucht er eine Art Selbstbefreiung, indem er sich zur Luftwaffe meldet und zum Fluglehrer ausbilden lässt.

Mitten im Krieg, im Juni 1940, heiratet er in Kulmbach die aus Ostfriesland stammende Hildegard Landau. Aus der Ehe gehen zwei Kinder hervor. Doch die Tragik in der Familiengeschichte setzt sich fort: Ihr Sohn stirbt im Kindesalter an einer Infektion. Christian Straßburger selbst wird ein paar Wochen vor Kriegsende, im Januar 1945, mit seinem Jagdbomber über Polen abgeschossen.

Malerei am Abgrund

Die von ihm erhaltenen grafischen Arbeiten sind fast durchwegs Zeugnisse menschlicher Grenzerfahrungen - Leid, Tod, Ängste, Obsessionen. Dabei greift er zu literarischen, mythologischen, vor allem aber religiösen Stoffen. Viele Arbeiten sind in ihrer Drastik schwer erträglich, doch man spürt, dass sich hinter dem gezeigten Elend der stumme Schrei nach Erlösung verbirgt.

In seinem Holzschnitt "Martyrium des Heiligen Sebastian" wird die Qual des Gefolterten körperlich spürbar. Der schöne Jünglingskörper, der an den Baum gebunden worden ist, wird von den Pfeilen der Bogenschützen, die wie Lanzen sind, durchbohrt. Die Sonne geht unter über dieser grässlichen Untat. Mehrere Blätter zeigen Szenen aus Shakespeares Königsmord-Drama "Macbeth". Darunter auch die drei Hexen, die Macbeth und seinem Gefolgsmann Banquo erscheinen. Ihre Prophezeiung, Macbeth werde durch den Mord an König Duncan selbst Herrscher in Schottland werden, erfolgt in einer gespenstischen Kulisse: Die Welt scheint aus den Fugen zu geraten. Im Vordergrund in Parallelschnitt-Schraffuren die zukünftigen Mörder, dahinter in grellen weiße Gewändern die dämonischen Hexen in Gestalt von verschrumpelten Greisen.

Einer der wenigen Lichtblicke in dem düsteren Panorama des Künstlers ist das Blatt "Aufsteigende Frau". Eine junge Frau erhebt sich aus ihrem Dasein und strebt zum Licht, das sie von oben empfängt. Es ist ein Bild der Hoffnung auf eine bessere Zeit.