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"Martyrium" rührt das Gericht


Autor: Markus Häggberg

Lichtenfels, Freitag, 25. Januar 2019

Ein 74-Jähriger wurde von seinem Stiefbruder so lange drangsaliert, bis das Fass übergelaufen ist.
Aus einem "versuchten Totschlag" machte das Gericht eine "gefährliche Körperverletzung in einem minderschweren Fall". Foto: Christopher Schuld


Ein Urteil unter Vorbehalt hat man nicht alle Tage. Richter Alexander Zenefels sprach ein solches gegen einen 74-jährigen Mann aus, der sich einer gefährlichen Körperverletzung schuldig gemacht hatte. Aus Gründen, für die das Gericht Nachsicht hegte.

Es war in vielerlei Hinsicht ein ungewöhnliches Verfahren, welches am Donnerstag im Amtsgericht eröffnet wurde. Was von der Polizei als "versuchter Totschlag" auf dem Tisch der Staatsanwaltschaft landete, wurde von ihr zur gefährlichen Körperverletzung herabgestuft. Begangen Ende Mai 2018 auf offener Straße von einem Rentner aus dem östlichen Landkreis an seinem Stiefbruder, als er gegen diesen mit einer Schaufel ausholte und zuschlug. Es sei damals um eine Heu- beziehungsweise Mistgabel gegangen, die der Bruder aus dem Auto des Angeklagten heraus unrechtmäßig an sich nehmen habe wollen. Doch diesem Verhalten seien viele ähnliche und schlimmere über Jahre vorausgegangen.

So schilderte der von Rechtsanwalt Horst-Hermann Hofmann vertretene Senior in seiner Vernehmung Verhältnisse, welche Hofmann später in seinem Plädoyer unter dem Wort "Martyrium" zusammenfasste. Ihm seien von seinem fast zehn Jahre jüngeren Bruder immer wieder Reifen zerstochen worden, auch sei ihm Öl in den Benzintank gegossen und Radkappen demoliert sowie Schuhe zerschnitten worden. Einmal gar sei ihm von seinem Bruder auf den Kuchen gespuckt worden und im Laufe der Zeit wohl 80 Mal ins Gesicht. Auch Hiebe habe er einstecken müssen. "Er ist mir körperlich überlegen und er nutzt es vollkommen aus", so der Angeklagte zu dem Mann, den er zudem als Alkoholiker bezeichnete.

Schon einmal eskaliert

Einem Prozessbeobachter mochte es erscheinen, als ob an jenem 30. Mai das Fass übergelaufen sei. Mehrmals betonte der Angeklagte, dass er seinen Bruder nicht habe treffen wollen. "Was haben Sie denn geglaubt, was passiert, wenn Sie wohin schlagen?", fragte im Gegenzug Richter Zenefels. Der Streit der Brüder ist schon aktenkundig. Schon einmal vor über fünf Jahren, so ein als Zeuge vernommener Polizist, habe die Kripo wegen versuchten Totschlags Ermittlungen angestellt, jedoch gegen den jüngeren Bruder.

Als dieser in den Zeugenstand trat, betonte er im Gegensatz zum Angeklagten die eigentlich bestehende Stiefbruderschaft zwischen ihnen. Und er erhob selbst den Vorwurf, beleidigt worden zu sein. Auf seine Erkundigung nach der Mistgabel habe er zu hören bekommen: "Du Daabgschlagener waaßt wohl wieder niä, wo sie is." Mehr noch: Sein Stiefbruder habe ihm erklärt, zu bedauern, ihn nicht auf der Platte, also am Kopf erwischt zu haben. Tatsächlich schaffte es der im Zeugenstand aussagende Bruder wohl, sich durch eine abwehrende Armbewegung vor schlimmeren Folgen als der einer auflappenden Armwunde zu bewahren, die mit neun Stichen genäht werden musste. Dass er bei dem Ausmaß der Verletzung durch Zupfen an der Wunde nachgeholfen habe, bestritt er vehement.

Auch die Tochter geschlagen

Einen schweren Stand in diesem Verfahren hatte auch die Tochter dieses Mannes, die ihrem 74-jährigen Stiefonkel zugute hielt, dass dieser seit vielen Jahren Repressalien im Haus ausgesetzt sei. Sie selbst habe auch Angst davor, und bevor sie in den Zeugenstand trat, wurde sie von ihrem Vater als "hörig" gegenüber seinem Stiefbruder bezeichnet. "Das bin ich absolut nicht", so die Frau. Über die Verhältnisse in dem von der zerstrittenen Familie gemeinsam bewohnten Haus äußerte sie: "Ein Kindergarten ist ein Dreck dagegen." Bei der Frage danach, von wem die Streitereien ausgingen, gab sie auch an, dass ihrem Vater der provozierende Teil zukomme. Auch sie selbst sei von ihm schon geschlagen worden und ja, der Vater sei Alkoholiker. Zudem habe ihr Vater ihr eingeschärft, dass, so sie aussagen würde, sie nicht mehr heimzukommen brauche. Den eigentlichen Tathergang habe auch sie nicht in Gänze mitbekommen, da ihr das Auto, in welchem die Mistgabel lag, die Sicht versperrte. Jedoch habe sie laut werdend zu schlichten versucht.

Ungewöhnlich entgegenkommend fiel am Ende das Plädoyer der die Staatsanwaltschaft vertretenden Rechtsreferendarin Rona Schmidt aus. Sie sprach von einer gefährlichen Körperverletzung in einem minderschweren Fall, da es zu ständigen Provokationen des Angeklagten gekommen sei. Als Strafe sah sie lediglich eine Geldstrafe in Höhe von 4500 Euro vor, da es sich bei dem Vorfall vom 30. Mai um eine Tat gehandelt habe, die offensichtlich einen Affekt provozierte.

Mildes Urteil gesprochen

Engagiert trat auch Hofmann auf und forderte lediglich 3000 Euro Strafe. Es sollte anders kommen als erwartet, denn Richter Zenefels sprach eine Verwarnung gegen den 74-Jährigen aus und verhängte 4500 Euro Geldstrafe, jedoch bleibe hier die Zahlung unter Vorbehalt. Lediglich eine Bewährungsauflage in Höhe von 600 Euro sei zu entrichten. Auf zwei Jahre beläuft sich die Bewährungszeit für den auch von Zenefels als letztlich minderschwer eingestuften Fall. Besondere Umstände sprächen für den Angeklagten. Dessen Stiefbruder "behandelt ja schon seine eigene Tochter nicht gut".