Druckartikel: Keinen einzigen Tag getrennt

Keinen einzigen Tag getrennt


Autor: Christiane Lehmann

Dörfles-Esbach, Donnerstag, 11. April 2019

Hildegard und Rudi Reißmann sind seit über 70 Jahren ein Paar. Wie sie ihre Liebe gelebt haben, mag so gar nicht in das Bild einer romantischen Schmetterlinge- im-Bauch-Beziehung passen. Und doch...


Eine Liebe leben und eine lange Ehe führen ist selten ein und dasselbe. Kann es gelingen? Finden wir das Paar, das auch mit 90 noch Händchen haltend durch die Stadt läuft, das immer noch Schmetterlinge im Bauch spürt und bei dem keiner auch nur einen Tag vom anderen getrennt sein will?

Wir haben nicht lange gesucht, wir haben ganz pragmatisch "gnadene Hochzeit" in unsere Tageblatt-Suchmaschine eingegeben und uns überraschen lassen. Die erste, die wir gefunden haben, war die von Hildegard und Rudi Reißmann aus Dörfles-Esbach. Sie feierten im vergangenen Jahr ihre Hochzeit vor 70 Jahren. Ob sie mit uns wohl über die Liebe an sich reden würden? "Naja, da kommen Sie halt mal vorbei", lautete die nüchterne Antwort von Hildegard Reißmann.

Mit unseren 28 Ehejahren gehören mein Mann und ich im Freundeskreis schon zu den Dinosauriern. Die Vorstellung, dass die Reißmanns seit über sieben Jahrzehnten Bett und Tisch teilen, lässt mich ein bisschen ehrfürchtig, aber auch neugierig zum Termin gehen.

Rudi Reißmann hatte schon wieder vergessen, dass ich komme. Seine Frau winkt ab und führt mich ins Wohnzimmer. Der 98-Jährige sitzt in seinem Sessel, die Augen geschlossen. Man könnte meinen, er schläft. Aber das stimmt nicht. Er hört einfach lieber zu. Es ist Hildegard (95), die mir ihre Geschichte erzählt.

Sie nimmt mich mit auf die Zeitreise ihres Lebens. Nach zwei Stunden werde ich das Häuschen Am Hang wieder verlassen: ernüchtert, schmunzelnd, demütig. Was Liebe ist, welchen Raum sie in uns einnimmt und wie sie gelebt wird, dafür gibt es keine festen Definitionen und Regeln. Jede Beziehung hat ihre individuellen Muster. Lediglich die Romantiker und die Träumer tanzen auf einem Nenner. Aber das Leben und die Zeit, in die man hineingeboren wird, auch das Schicksal, bestimmen, wie letztendlich Liebe tatsächlich gelebt wird.

Verbindung seit Schultagen

Hildegard und Rudi Reißmann kennen sich schon seit Schultagen. Und als der stattliche Rudi in den Krieg zog, schrieb ihm Hildegard - wie auch andere aus der Schule - Briefe ins Feld. Nicht, weil sie das Bedürfnis hatte, sondern, weil die Mädchen das machen mussten.

Bei einem seiner Heimaturlaube hat es zwischen den beiden dann gefunkt. Obwohl Hildegard das so nicht ausdrücken würde. "Da kamen wir halt zusammen und das war dann so", lautet ihre Version. Abgemagert kam Rudi 1947 aus russischer Gefangenschaft zurück, sein Zimmer im elterlichen Haus war an Flüchtlinge vergeben, und er musste auf dem Sofa in der Küche schlafen.

"So konnte das nicht weitergehen", beschloss Hildegard. "Wir haben uns einfach gut verstanden, da war klar, dass wir heiraten." Dass Hildegard schon bei der Hochzeit schwanger war, wusste sie damals nicht. Sieben Monate später kam Tochter Elke zur Welt. Die Familienplanung nahm ihren Lauf. Sie hatten ein gemeinsames Ziel. Natürlich drehte sich anfangs viel ums Geld. Schließlich wollten die beiden ihr eigenes Häuschen bauen. Beide arbeiteten viel: Der gelernte Kunstglaser bekam eine Stellung als Wachtmeister bei der Coburger Justiz, sie als Schuhfachverkäuferin. 1957 wurde Tochter Petra geboren.

Kompromisse machen

Streitigkeiten gab es eigentlich nie, sagt Hildegard. Wenn, dann ging es ums Fußballspielen. "Jeden Sonntag saß ich entweder allein zu Hause oder war bei den Heimspielen mit dem Kinderwagen auf dem Sportplatz. Da war ich schon manchmal sauer", erzählt die 95-Jährige. Manchmal musste sie sogar aus ihrer Haushaltskasse den Schiedsrichter bezahlen. "Aber das hat man halt gemacht, damit Ruh' und Frieden war!"

Das Zauberwort für eine gelingende Beziehung lautet für Hildegard "Kompromiss". Immer wieder betont sie, dass sie Kompromisse gemacht hätte. Wenn sich die Männer zum Kartenspielen getroffen haben, sind die Frauen halt mit und haben so lange gehäkelt. Eigene Freiheiten hat sie nicht vermisst. An Trennung habe sie nie gedacht. "Wir haben fast alles zusammen gemacht." Am schönsten waren die gemeinsamen Urlaube in Südtirol. Ob sie denn nicht auch mal allein verreist sei? Nein, nie. Sie hatte gar nicht das Bedürfnis. Auch im Freundeskreis war das so. Keines der befreundeten Pärchen hat sich scheiden lassen.

Bis auf einen längeren Krankenhausaufenthalt in Kutzenberg verbrachten die Reißmanns jede Nacht ihres gemeinsamen Lebens zusammen. Gesehen haben sie sich täglich in den vergangenen 71 Jahren, denn auch in Kutzenberg hat Rudi sie jeden Tag besucht.

Sex wird heute überbewertet

Über ihre Gefühle können die beiden nicht wirklich sprechen, aber sie wissen sehr genau, warum ihre Ehe solange gehalten hat: "Man muss sich gegenseitig gut verstehen, miteinander handeln und darf keine Geheimnisse haben", formuliert Hildegard ihr Rezept. Naja, und natürlich Kompromisse machen. Abends vorm Schlafengehen muss auch immer alles wieder gut sein. Sex werde heutzutage völlig überbewertet, sagt sie auf Nachfrage.

Rudi schaut kurz auf und sagt: "Sie hat mich auch nie überfordert. Wenn etwas nicht geklappt hat, hat's halt nicht geklappt. Naja, und was der eine nicht gewusst hat, hat eben der andere gewusst! Was der eine nicht kann, kann der andere." So ist es auch Rudi, der jeden Morgen seiner Frau hilft ihre Strümpfe anzuziehen, weil sie das nicht mehr allein kann.

Ein guter und lieber Mensch sei seine Frau gewesen, "ist sie noch", verbessert er sich schnell. Hildegard kann sich nicht vorstellen, ohne ihren Mann zu leben. Wenn er doch mal etwas grantig wird, dreht sie sich rum und denkt: "Rutsch mir doch den Buckel runter."