Heimat - Vision 35/40
Autor: Markus Häggberg
Lichtenfels, Freitag, 15. März 2019
Ein Mann (wahlweise auch eine Frau oder jemand dritten Geschlechts, vierten Grades oder siebten Sinns) liegt im Fiebertraum. Er träumt sich in eine Kindheit, er träumt vom Fasching. Aber irgendwas sti...
Ein Mann (wahlweise auch eine Frau oder jemand dritten Geschlechts, vierten Grades oder siebten Sinns) liegt im Fiebertraum. Er träumt sich in eine Kindheit, er träumt vom Fasching. Aber irgendwas stimmt nicht.
Oma und Opa sind noch dieselben und winken ihm zu. Haben sie ihm das angetan, was er jetzt am Leib trägt? Er ist wieder fünf Jahre alt und trägt ein Meermannkostüm, auch wenn ihm niemand erklären kann, was Meermänner so tun. Oder taten. Sein Fummel piekt und irgendwie beneidet er die Mädchen, die als Piratinnen angezogen sind. Aber sein Neid hat bald ein Ende, denn viele Piratinnen spielen doch nur wieder Prinzessin, und das will er dann doch nicht.
Jetzt ist der Blick des Träumers ein anderer, anders platziert, mehr in der Höhe. Er hat sich selbst und noch dazu aus dem Blick verloren, er weiß nur, dass er irgendwo da unten inmitten des Pulks Kinder sein dürfte. Sie sind kostümiert, nehmen Aufstellung und setzen sich in Gang. Jetzt versteht der träumende Mann, dass es ein Umzug ist.
Die Kinder gehen fröhlich winkend den Dr.-Günther-Hauptfrau-Ring entlang, vorbei am bzw. an der zufrieden blickenden Bürgerschaftsmeisternden und dem bzw. der Landratenden. Wenig später biegen die Kinder die zum Dümpfelschöpfenden (erster Kompromissentwurf einer Sprachkommission) führende Straße ein. Zwischen Oberem Tor und Unterem Tor sind die Kinder angehalten, Flugzettel wie Konfetti zu werfen. Auf ihnen steht: Zucker ist ungesund. Die die Straße säumende Menge steckt sich die Zettel begierig in die Taschen. Aus einem Lautsprecher ertönt eine Erfolgsmeldung, wonach laut Stadtratendenbeschluss die Frauenquote bei den 14 Nothelfern und Nothelferinnen erfolgreich beschlossen wurde. Die Menge johlt und stimmt die Franken- und Fränkinnenhymne an. Es klingt ein bisschen sperrig, aber seit dem Franken- und Fränkinnenstadion in Nürnberg ist man ja einiges gewohnt. Das tolerieren schon die Grundzuschulenden in den Schulen Kronacher Straße und Marktplatz.
Der träumende Mann findet sich plötzlich andernorts wieder. Er steht in einer Turnhalle kurz unterhalb der Bütt. Soeben bekommt er mit, dass der über Facebook erfolgte Aufruf, der Veranstaltung am Abend fernzubleiben, wohl Früchte tragen wird - weil die berechtigte Gefahr besteht, dass jemand diskriminiert, ein anderer diskreditiert oder etwas disharmoniert werden könnte.
Es macht die Runde, den entscheidenden Anstoß hierfür habe die Facebook-Community aus dem Dunstkreis des VsL (Verband schielender Linksträger) erhalten, der sich ja bekanntermaßen schon lange um die Rechte ihrer Klientel sorgt. Zu einer konzertierten Aktion mit dem VsK (Verband schielender Konträrträger), der, um nicht die falschen Menschen anzuziehen, sich eben nicht Verband schielender Rechtsträger, sondern bewusst anders nennt, kam es nicht. Doch auch wenn der VsK via Twitter und Whatsapp eine eigenen Kampagne startete, so betonten beide Verbände doch ihre grundsätzliche Übereinstimmung und erhielten bei diesem gesellschaftlich bedeutsamen Thema Rückendeckung von der GaB (Gesellschaft arbeitsloser Bedenkenträger). In einem gegen Zahlung von Bitcoins erhältlichen gemeinsamen Communiqué stand zu lesen, dass die Menschen gerade im Fasching sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst zu sein hätten und mutig Betroffenheit, Trauer und Bestürzung zum Ausdruck bringen sollten. Plötzlich schreckte der Mann aus seinem Traum hoch. Er war wieder alt, kein Kind mehr. 2040 würde er wohl nicht mehr erleben. Jetzt musste der Mann lächeln. Glück gehabt, irgendwie.