Grenzerfahrung: In der Brotzeitpause zum Aldi-Markt und verspätet zurück
Autor: Ralf Kestel
Ebern, Sonntag, 09. November 2014
von unserem Redaktionsmitglied Ralf Kestel Ebern — Der Findling aus dem Jesserndorfer Steinerts-Wald fristet seit Jahrzehnten ein Mauerblümchen-Dasein. Dabei soll er an den Fall de...
von unserem Redaktionsmitglied Ralf Kestel
Ebern — Der Findling aus dem Jesserndorfer Steinerts-Wald fristet seit Jahrzehnten ein Mauerblümchen-Dasein. Dabei soll er an den Fall der Mauer im Herbst 1989 erinnern. Zum 25. Jahrestag dieses historischen Datums versammelten sich zumindest ein paar Stadträte und die beiden Pfarrer um den Gedenkstein, der zum 3. Oktober 1992 aufgestellt worden war, seither aber meist nur von Hundehaltern und ihren Zamperln besucht worden ist.
Am gestrigen Sonntag beleuchtete Bürgermeister Jürgen Hennemann (SPD) die historische Dimension, die auch für Ebern in Zusammenhang mit dem Gedenkstein steht. "Mir sind noch die vielen Trabis in der Bundeswehrkaserne und besonders auf dem Aldi-Parkplatz in Erinnerung. Die Menschen aus der DDR kamen zu uns und wurden freundlich aufgenommen.
So wie man sich das wünscht." Das erhoffe er sich auch für die Flüchtlinge und Asylbewerbern aus den Kriegsgebieten, die aktuell das Stadtbild beleben. Und weitere persönliche Erlebnisse sprach Hennemann an. "Ich habe den damaligen Pfarrer Christian Führer der Nikolaikirche in Leipzig einmal von der Situation damals berichten hören. Allein von seinen Erzählungen ist einem der Schauer über den Rücken gelaufen", zeigte sich Bürgermeister Hennemann stark beeindruckt.
Ausgehend vom Friedensgebet jeden Montag, für das Pfarrer Führer die Nikolaikirche öffnete, seien immer mehr Menschen durch die Straßen von Leipzig gezogen.
Spannung und Angst seien förmlich zu greifen gewesen. Am 9. Oktober mehr als 70 000 Menschen. Ihnen standen 8000 bewaffnete Polizisten, Soldaten und Angehörige der Kampfgruppen der DDR gegenüber.
Doch ein Einsatzbefehl blieb aus. Es waren zu viele Menschen.
Führer führte das auf die besonnene Haltung der Demonstranten und die Appelle von Prominenten zurück, dass eine blutige Eskalation verhindert wurde. "Die Schilderungen des Pfarrers waren beeindruckend. Besonders, dass Menschen ohne Waffen einer Staatsmacht mit dem Risiko für ihr Leben entgegentraten." Dieses Beispiel zeige, wozu Menschen gemeinsam friedlich in der Lage sind zu bewegen. Das solle uns für die Zukunft ein Vorbild sein, erklärt Hennemann. "Ein Lehrstück für Demokratie."
An der Mauer gehämmert
"Ich habe am Abriss der Mauer mitgearbeitet", schrieb Jürgen Hennemann augenzwinkernd. Im Dezember 1989 habe er in Berlin selbst an der Mauer als Mauerspecht geklopft. "Ich war zu einer Konferenz des DGB in Berlin. Da sind wir natürlich an die noch stehende Mauer gefahren.
In der Nähe der Kochstraße haben Kinder Hammer und Meißel für eine Mark verliehen und man konnte selbst ein Stück der Berliner Mauer abklopfen. Was wir natürlich getan haben", berichtete Hennemann. Er habe das Stück noch in einem Schmuckkästchen zu Hause.
Eine Geschichte aus seiner Zeit als Betriebsrat bei FAG Kugelfischer hatte er auch parat: Inge Kustos aus Eichelberg arbeitete 1990 in der Gummiteilekontrolle im Eberner Werk mit Kolleginnen, die aus der DDR kamen, zusammen. "Öfter montags, nach der Brotzeit, waren diese Kollegen aus der Abteilung verschwunden. Sie wurden gesucht, der Betriebsrat eingeschaltet. Nach einer gewissen Zeit kamen sie mit vollen Einkaufstaschen zurück. Sie waren beim Aldi." Darauf angesprochen, dass das so nicht ginge und warum sie das machen würden, erklärten sie, dass sie die Aldi-Anzeige gesehen hätten und sofort hin müssten.
"Sonst bekommt man nichts mehr." Die Verhaltensweise aus der DDR habe sich fortgesetzt und wurde von den Damen praktiziert.
Dort sei man selbstverständlich vom Arbeitsplatz weggegangen, wenn etwas in den Läden angeboten wurde, um die Versorgung sicherzustellen. "Das hat sich dann schnell eingespielt, als die Kolleginnen gemerkt hatten, dass die Ware immer wieder nachgefüllt wird," erinnerte sich Hennemann.