Läuft das darauf hinaus, dass jeder seine eigene Wahrheit hat?
Nein. Wahrheit ist immer ein konkreter Geltungsanspruch, daher fallen wir, wie gesagt, nie aus dem Rahmen der Vernunft, aus dem Rahmen der Geltung und der Wahrheit. Über die Kriterien für wahre Aussagen sind wir uns weitgehend einig. Wir streiten aber über Inhalte, die sich aus verschiedenen Perspektiven ergeben. Doch Wahrheit ist ein Phänomen, das zwischen dem erkennenden Subjekt und dem erkannten Objekt entsteht. Und das eröffnet mehrere Perspektiven.
Wobei es leichter ist, sich auf die Bedeutung eines Objektes zu einigen, als etwa auf die Wahrheit einer politischen Aussage.
Wir sollten uns darüber im Klaren sein, in welchem Sinne wir über die Wahrheit sprechen. Da ist eine dreifache Untergliederung sinnvoll. Die Fragen, wie die Welt in den Kopf kommt und wie Wissen zustande kommt, betreffen die Erkenntnistheorie. Demnach sind Aussagen wahr, wenn sie mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Und Informationen werden zu Wissen, wenn sie geprüft wurden und wenn die Kriterien für die Prüfung bekannt und anerkannt sind. Wir brauchen einen Grund, um der Information zu trauen. Doch unser eigentliches Problem ist der Streit um die Wahrheit im Sinne von Wahrhaftigkeit. Da geht es dann um die praktische Dimension und darum, dass die Pflicht zum Streben nach Wahrheit wichtiger ist als die jeweilige Wahrheit selbst.
Sie meinen, dass wir Stellung beziehen müssen, uns aber nie sicher sein dürfen?
Das ist es, was ich als Didaktiker am häufigsten betone: Man kann mit der Philosophie immer im Leben anfangen. Doch dafür muss ich in mir das Kriterium für Gewissheit finden. Dazu gehört, dass ich den einseitigen Weltbezug, also die ausschließliche Suche nach der Wahrheit im Objekt, aufgebe. Wahrheit entsteht im Zusammenspiel von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt. Ich bin als Erkennender mit beteiligt, das muss mir bewusst sein. Und weil in der VUKA-Welt, in der wir leben, eine zunehmende Komplexität und Unklarheit auf der Objektseite herrscht, werden wir skeptisch und sind zunehmend auf uns selbst zurückgeworfen.
VUKA-Welt, können Sie das kurz erläutern?
Der Begriff kommt ursprünglich aus dem US-amerikanischen Militär. Er entstand nach der Auflösung der Sowjetunion, als sich die Militärstrategen fragten, wie sich die einzelnen Staaten jetzt wohl entwickeln würden. Und sie fanden heraus, dass es keine Vorhersagbarkeit gibt. Die vier Buchstaben der VUKA-Welt stehen für Volatilität, also Wechselhaftigkeit, für Unsicherheit, Komplexität und für Ambiguität, weil es an Eindeutigkeit fehlt. Mittlerweile wird der VUKA-Begriff auch in der Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie verwendet.
Klingt ziemlich kompliziert, wenn es um die Wahrheitsfindung geht...
Für die Philosophie ist das nix Neues. Wir können uns nicht sicher sein. Der Werteverlust und die Gefahr der Manipulation sind aber gewachsen und ein Riesenthema. Schauen Sie nur Ihre eigene Branche an, den Fall Relotius zum Beispiel. Durch die neuen Medien ist die Verlockung, Fake-News zu produzieren, größer geworden. Doch wenn das, was der Übermittler der Information aussagt, absichtlich nicht wahr ist, behandelt er den Empfänger der Nachricht unwürdig. Niemand will manipuliert und instrumentalisiert werden. Autor und Leser haben einen gegenseitigen Anspruch auf würdevollen Umgang. Daher gibt es die moralische Pflicht, die Wahrheit zu sagen.
Wenn, wie Sie sagen, die Wahrhaftigkeit ein Kommunikationsproblem ist, was ist dann Ihre Lösung?
Die "Intuitive Intelligenz", das Vertrauen auf die eigene Urteilskraft. Das müssen wir auch mehr schulen. Jeder Einzelne ist als erkennendes Subjekt konstitutiv für die Wahrheit. Wer ein Thema gründlich analysiert hat, kann sich am Ende auch auf sein Bauchgefühl verlassen. Wer immer nur auf die Wahrheit als das große Unerreichbare blickt, der macht sich klein. Die eigene Urteilskraft ist der Schlüssel. Das ist es doch, worum es seit der Aufklärung geht: Statt den vermeintlich vorgegebenen Lösungen nachzujagen, soll jeder Einzelne das Wagnis eingehen, selbst zu denken. Irrtum ist keine Schwäche; weil der Wille, Irrtümer zu vermeiden und zu korrigieren, unsere Stärke ist.
Ist Intuition lehrbar?
Wir können mit rationalen Methoden über die Intuition nachdenken. Die Intuition selbst ist nicht lehrbar, aber jeder, der genug Erfahrung in einer Sache hat, kann ihr folgen. Es ist kein Zufall, dass beispielsweise Gerichte mit Laien-Schöffen arbeiten. Sie haben nicht das Experten-Wissen des Richters, aber sie haben die Intuition, die hilft, die Wahrheit zu finden. In nicht beherrschbaren Situationen sollten wir nicht auf unsere Intuition verzichten. Jedenfalls reicht, wenn es komplex wird, das analytisch-lineare Denken nicht aus.
Das Gespräch führte Ekkehard Roepert