Druckartikel: Flucht aus der armen Heimat

Flucht aus der armen Heimat


Autor: Manfred Welker

Herzogenaurach, Dienstag, 03. November 2015

Auswanderer  Zwischen 1850 und 1870 kehrten rund 100 Herzogenauracher Deutschland den Rücken, um in Nordamerika ihr Glück zu suchen. Vor allem Weber und Tuchmacher hatten zu Hause kaum noch ein Auskommen.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ernährte der Webstuhl oftmals seine Besitzer nicht mehr. Foto: maw


von unserem Mitarbeiter Manfred Welker

Herzogenaurach — Im Jahr 2015 ist Europa und damit auch Deutschland das Ziel von Einwanderern. Es gab aber auch Zeiten, in denen Deutsche ihrem Land den Rücken kehrten. Auch Herzogenauracher waren darunter.
Die Forscher machen Push-Faktoren oder Pull-Faktoren dafür verantwortlich, dass Menschen ihre Heimat verlassen. Dazu zählen schlechte wirtschaftliche Umstände in den Auswanderungsländern oder vermeintlich bessere Umstände in den Einwanderungsländern.
Ziel von Einwanderern waren vor allem im 19. Jahrhundert die Vereinigten Staaten von Amerika. 1830 betrug deren Bevölkerungszahl 13 Millionen, im Jahr 1860 war sie auf 31 Millionen angewachsen. Dazu haben europäische Einwanderer beigetragen. Viele wurden vom Goldfieber ergriffen, als 1848 in Kalifornien der Goldrausch um sich griff.
Von 1850 bis 1870 lassen sich rund 100 Herzogenauracher namhaft machen, die ihr Glück jenseits des großen Wassers suchten. Bei manchen war es Abenteuerlust, bei anderen die Hoffnung, sich emporarbeiten zu können. Denn in der Tuchmacherstadt Herzogenaurach konnte am heimischen Webstuhl nur noch ein Hungerlohn erzielt werden.


Abschied von Konkurrenten

Einige wurden aber auch von der Stadtverwaltung mit sanfter Gewalt abgeschoben, um unliebsame Bewohner für immer loszuwerden. Die Stadtväter standen zu diesem Zweck mit dem Auswanderungsagenten Leonhard Hertlein in Erlangen in Kontakt. Mit fast jedem Auswanderer hatten die Tuchmacher, Zeugmacher und Weber einen Konkurrenten weniger.
Die Freigiebigkeit der Stadtväter war bemerkenswert, Arme erhielten Reisezuschüsse bis zu 50 Gulden, mancher Tunichtgut wurde ganz auf Kosten der Stadt nach Amerika befördert, so im August 1860 die ledige Elisabeth Schürr.
Auch Franz Krämer, lediger Zeugmachergeselle, war 1849 mit Unterstützung aus städtischen Mitteln nach Nordamerika ausgewandert. Im Juni 1852 kehrte er nach Herzogenaurach zurück und brachte 440 Gulden in bar mit, er besaß eine vergoldete und eine silberne Uhr, vier goldene Ringe und zwei Vorstecknadeln. Im September 1852 schiffte er sich wieder ein, kehrte aber ein Jahr später erneut aus Philadelphia zurück, um sich hier bei seinen Verwandten vier bis fünf Monate aufzuhalten.
Zu Beginn des Jahres 1854 nahm er bei seiner Rückkehr nach Nordamerika seinen 15-jährigen Neffen Matthias Krämer, Sohn des Webermeister Georg Krämer, mit. Im Juli 1856 traf er wiederum in Herzogenaurach ein und brachte drei Koffer mit ansehnlichem Inhalt mit, unter anderem einen weißen Beutel gefüllt mit Gold und Silber. In Philadelphia hatte er bei dem Wirt Jakob Wagner in der Neumarkerstraße einen Ausläufer gemacht und nebenbei Handel mit Seidenzeug, Sacktüchern, Halstüchern usw. getrieben.
Die Stadtbewohner sahen diese häufigen Reisen mit Missfallen. Das Landgericht gab dem Stadtmagistrat den Auftrag: "Dem Franz Krämer ist zu bedeuten, dass er einer regelmäßigen Beschäftigung sich zu widmen habe, widrigenfalls als Vagant und Landstreicher mit ihm verfahren werden kann, dass Krämer bei seinen verschiedenen Besuchsreisen ohne alle Beschäftigung sich dahier aufhalte." Im November 1856 trat Krämer auf Anweisung des Stadtmagistrats wieder die Reise nach Nordamerika an.
Eine andere Möglichkeit war, dass unvermögende Ausreisewillige Subskriptionslisten umlaufen ließen und um freiwilligen Zeichnung baten, um so ihr Reisegeld zu sammeln. Der Magistratsdiener der Stadt zog die Summen ein, ein Auswanderer erhielt auf diese Weise einen Zuschuss in Höhe von 45 Gulden.


Reisegeld für den Sohn

Die Auswanderung betraf Frauen und Männer jeden Alters, ganze Familien, Handwerker, Bauern und Beamte. Weitere Beispiele geben einen Eindruck von den Beweggründen.
Schneidermeister Karl Hetzler wanderte im November 1852 aus. Zuvor verkaufte er sein Haus und erhielt von seinem Bruder, dem Tuchmachergesellen Heinrich Hetzler, 350 Gulden zusätzlich. Sein Sohn Johann Hetzler war als Schuhmachergeselle auf Wanderschaft. Da sich sein Aufenthalt nicht ermitteln ließ, deponierte der Vater 50 Gulden Reisegeld beim Magistrat der Stadt Herzogenaurach, damit er bei seiner Rückkehr den Eltern nachfolgen könne. Als der Sohn im Februar 1853 nach Herzogenaurach kam, zahlte ihm die Stadt die fehlenden 60 Gulden zur Hälfte aus der Kämmerei, zur Hälfte aus der Armenkasse. Im Mai 1854 reiste er seinem Vater nach, der sich in Rochester niedergelassen hatte.
Auch ganze Familien machten sich auf den Weg. So der Tuchmachermeister Johann Alois Fischer mit seiner Ehefrau und den fünf Kindern Eva (21 Jahre), Georg (15 Jahre), Barbara (elf Jahre), Thomas (neun Jahre) sowie Otto Heinrich (sechs Jahre) alt. Er verkaufte im September 1853 das halbe Wohnhaus Nr. 154, jetzt Steinweg 10, mit Zugehörung und mehreren Grundstücken sowie den zwölften Anteil an der Spinnfabrik in der Heinrichsmühle.
Denn am 25. Januar 1852 war die Heinrichsmühle abgebrannt. Betroffen waren das Wohngebäude des Müllermeisters Joseph Deuring und im Nebengebäude die Spinnmaschine der Tuchmachermeister Franz Bitter und Konsorten, an der zwölf Tuchmachermeister beteiligt waren. Der Verlust der Maschine schlug mit 8000 Gulden zu Buche, dazu kamen noch der Verlust an Wolle und Garn im Wert von 1000 Gulden. 1867 wanderte auch der Müllermeister auf der Heinrichsmühle, Joseph Deuring, mit seiner Ehefrau Anna Maria nach Nordamerika aus.
Im Alter von 46 Jahren wanderte Büttnermeister Friedrich Welker mit seiner Ehefrau Johanna, geborene Baier, und den vier Kindern, Philipp (18 Jahre), Ursula (13 Jahre), Margaretha (zwölf Jahre) und Konrad (neun Jahre) nach Nordamerika aus. Um die finanziellen Mittel für die Reise zu erhalten, veräußerte er seinen Besitz, die Hälfte des Wohnhauses Nr. 61, jetzt Hauptstraße 36, und mehrere Grundstücke.
Der Tuchmachermeister Georg Josef Fischer war 1847 heimlich nach Amerika gereist und kehrte im August 1851 zurück. Im Juni 1854 wanderte er wieder aus und ließ seine Familie zurück, die er später nachholen wollte, seine Ehefrau und vier halbwüchsige Kinder.
Nach der Reichsgründung im Jahr 1871 und dem wirtschaftlichen Aufschwung, den das Deutsche Kaiserreich nahm, ebbten die Auswanderungen ab. Ein zweite Welle gab es nach dem Ersten Weltkrieg in den 1920er-Jahren, sie brachte auch Auswanderer nach Südamerika.