Erkenntnis in H2O
Autor: Markus Häggberg
Lichtenfels, Donnerstag, 01. Oktober 2015
von unserem Mitarbeiter Markus Häggberg W ir leben in der Zeit des Übergangs. Dabei soll bei dem Wir hier nicht die Rede von unserer Gesellschaft und im Allgemeinen sein, sondern ...
von unserem Mitarbeiter
Markus Häggberg
W ir leben in der Zeit des Übergangs. Dabei soll bei dem Wir hier nicht die Rede von unserer Gesellschaft und im Allgemeinen sein, sondern von einem anderen Wir: von dem großen Wir der um die 40 Jahre alten Jungs. In der Erkenntnis ein Solcher zu sein, gönnte ich mir neulich einen Tag Wellness.
Zuerst will man das ja nicht wahrhaben, aber irgendwann muss man sich den ersten Faltenwurf auf der eigenen Haut eingestehen. Jetzt gilt es, Ablenkung zu schaffen, denn besser wird's nicht mehr.
Passender Ort: Thermalbad
Ein passender Ort der Ablenkung wäre ein Bad, ein Freibad, ein Schwimmbad oder ein Thermalbad. Letzteres fand meine Gunst. Aber ach, so eine Ablenkung hat es in sich, bleibt man in ihr sich selbst überlassen. Dann nämlich kommt man bloß wieder ins Grübeln.
Fragen von Tragweite tun sich auf: Wie lange habe ich wohl noch? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Gibt es wenigstens eines vor dem Tod? Wie verhält sich die Sache mit Gott? Soll man sich in meinem Alter und bei beginnendem Verfall wirklich noch mal einer Frau zumuten?
36 Grad warmes Wasser
Gibt es eine Wirkung von Hopfen auf Bauch? Und was wurde eigentlich aus meinem Lieblingskeks LU von de Beukelaer? Liegt man in 36 Grad Celsius warmem Wasser, können solche Gedanken einem schon kommen. Eben weil kein Telefon läutet, keine E-Mail eintrifft, kein Termin anberaumt ist. Es gibt ja Menschen, die können einfach so genießen. Das geben sie auch noch offen zu. Oft wird dieses Geständnis auch von der so interessanten wie kryptischen Bemerkung begleitet, wonach man "im Jetzt" sei oder "im Moment" lebe.
Eine Fähigkeit, bei der man sich manchmal fragt, was genau diese beneidenswerten Menschen damit meinen. Liegen sie einfach nur im Wasser, im Koma, am Strand, saugen sie Sonne auf und Luft ein und finden wortlosen Genuss daran? Bedürfen ihre Augenblicke überhaupt irgendwelcher Worte oder kommen ihre Aufenthalte im Moment seligem Schlummer nahe? Erlebnisbefreiung? Weiß ich eigentlich, wovon ich rede?
Aufenthalt: zehn Minuten
Eben darum zog es mich in ein Warmwasserbecken mit zwölf Prozent Salzanteil. Ich liege also im Wasser und mein Blick fällt auf das schräg über mir befindliche Schild, wonach ein hiesiger Aufenthalt über zehn Minuten Dauer der Gesundheit eher abträglich sein soll. Endlich eine Herausforderung! Ich beginne etwas, mit geschlossenen Augen auszusitzen. Fünf Minuten, zehn Minuten, 20 Minuten.
Keine Anzeichen einer Schwächung, ich sehe Liebespaare kommen und gehen, eintauchen und schrumpeln.
Vorbild: Friedrich Händel
Ich schrumpele auch, aber ich habe auch ein Vorbild: Georg Friedrich Händel. Der soll nach seinem Schlaganfall ja aus einer heißen Therme gar nicht mehr herausgekommen sein. Als er dann doch mal ging, war er geheilt. War das, bevor oder nachdem er die Sopranistin wegen eines Vierteltons aus dem Fenster hing? Die Gedanken kreisen und lenken mich von meiner Endlichkeit ab. Als ich nach Stunden aus dem Wasser steige, suche ich mir eine neue Ablenkung. Im Außenbecken gibt es Wassergymnastik für Senioren. Ich mache mit, kreise meine Beine und dehne meine Arme.
Die Senioren neben, vor und hinter mir führen ihre Übungen nicht halb so korrekt aus wie ich. Das macht mir Mut und schenkt mir wertvolle Momente und eine Erkenntnis im Jetzt: Mein Übergang ins Seniorenalter gelingt mir unter einer gewissen Rüstigkeit.