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Die rasende Geburtshelferin


Autor: Sarah Seewald

LKR Haßberge, Dienstag, 15. Dezember 2015

Sie hat über 15 Jahre als Hebamme gearbeitet. Hat fast jedes Kind in ihrer Heimatgemeinde zur Welt gebracht. Es ist die Geschichte einer 90-jährigen Frau, die 1956 drei Kinder hatte und damals wusste, wie man Beruf und Familie vereinbart.
Ein Ausschnitt aus der Hebammen-Zeitschrift von 1970 zeigt, dass eine Hausgeburt "ohne Rücksicht auf die Dauer des Beistandes" einer Hebamme damals 160 DM eingebracht hat.


Heute kommt meist die Karriere, dann das Kind. Sie hat es andersherum gemacht. Erst drei Kinder, dann die Ausbildung. Sie, das ist eine wahrlich besondere Frau. Früher wie heute. Heute sitzt sie da, mit strahlend weißem Haar, schmaler, zierlicher und bestimmt auch kleiner als früher.
Eine alte Dame, ja das kann man mit 90 Jahren schon so über sie sagen. Aber fit im Kopf. Für sie selber tut das alles weniger zur Sache. Früher wie heute. Deshalb will sie nicht ihren Namen in der Öffentlichkeit lesen, sich auch nicht fotografieren lassen, kramt stattdessen lieber ein altes Fotoalbum aus vergangenen, aber längst nicht vergessenen Zeiten hervor.
Sie selbst würde schreiben: Eine letzte Alt-Hebamme aus dem Landkreis. Wir nennen sie für diese Geschichte Emma, das klingt persönlicher. Außerdem ist es ein Name, der es wohl auch in den 20er-Jahren in die Top 100 der Vornamen geschafft hat. Emma ist 1925 geboren. Aufgewachsen in einer unterfränkischen Gemeinde im Landkreis Haßberge. Irgendwo zwischen Ebern und Zeil, aus den Heiligen Ländern.


Ausbildung mit Großfamilie

Als junge Frau hat sie geheiratet, Kinder bekommen, sich mit ihrer Familie ein kleines Häuschen gebaut. Und dann, Mitte der 50er-Jahre kam die Überlegung auf, ob sie es noch einmal in der Hebammenschule in Bamberg versuchen sollte. Bei ihrer ersten Bewerbung gab der Amtsarzt wegen einer Armverletzung kein grünes Licht. Doch nachdem Emma von ihrer Tante, die selbst Hebamme war, und ihrer Familie unterstützt wurde, wollte sie es noch einmal wissen.
Das Entscheidende: Der Amtsarzt - der Entscheider - hatte gewechselt und "er war froh, dass sich jemand auf dem Land gemeldet hat", erinnert sich Emma. Also zog die dreifache Mutter mit 31 Jahren Anfang November 1956 nach Bamberg in die Hebammenschule am Markusplatz. Um ihre Kinder haben sich ihre eigenen Eltern, die oben mit im Haus gewohnt haben, und ihr Mann gekümmert. 100 Mark hat die Ausbildung zur Hebamme damals gekostet. Und Emma außerdem noch dazu einige Tränen. In ihrem Fränkisch sprudeln der 90-Jährigen die Geschichten von damals über die Lippen: Wie sehr sie hin und wieder ihre Kinder vermisst hat, wie sie sich mit Anfang 30 und drei Kindern trotzdem noch wie ein Schulmädchen beim Oberarzt um Ausgeh-Erlaubnis bitten musste... Oder auch: Einmal, da war sie mit dem Zug in einer Freischicht von Bamberg aus nach Hause gefahren, ist mehrere Kilometer durch die Haßberge gestapft, bis sie schließlich daheim ankam, um bei ihrem kranken Sohn zu sein. "Meine Mutter hat mich geschimpft", dass ich extra gekommen war und ihr Mann, der hat sie schließlich wieder mit dem Goggomobil in die Stadt reingefahren. Manchmal ist ihr Mann mit dem Auto - was damals noch kein selbstverständlicher Besitz war - von Unterfranken nach Oberfranken gefahren, um seine Frau mit den Kindern zu besuchen.
Als die Ausbildung zur Hebamme in Bamberg erfolgreich beendet war, arbeitete Emma als freiberufliche Hebamme in ihrer Heimat. Wie vielen Kindern sie auf die Welt verhalf, das weiß sie gar nicht genau. Was sie aus den alten Kassenbüchern noch herauslesen kann, ist, dass sie anfangs 54 D-Mark für eine Hausgeburt inklusive Nachsorge am Wochenbett bekommen hat. Welche Frau im Dorf damals schwanger war, Emma war dabei. So zum Beispiel auch bei der Geburt von Marias Schwester.


Die eine Hebamme im Ort

Maria kann sich noch genau an die Emma von damals - und somit an die Hebamme aus dem Dorf - erinnern: "Ich werde nie vergessen, wie sie mit dem Moped durch die Straßen gesaust ist." Mit dem Hebammenkoffer auf den Schultern, versteht sich. Den Koffer hatte Emma einer Kollegin für 375 Mark abgekauft. Mit dicken Bändern an den Seiten wurde daraus im Nu eine Art Hebammen-Rucksack.
Im Dorf, da hat sie jeder gut leiden können, schwärmt Maria. Und auch die Hebamme selbst weiß die Anerkennung von ihren Mitbürgern immer noch zu schätzen: Selbst die jungen Kerle kommen auf sie zu und grüßen, sagt sie. Als Hebamme selbst, da praktiziert sie schon lange nicht mehr. Nach 15 Jahren Dienst - als rasende Hebamme der Heiligen Länder, mit Moped und Hebammenkoffer - hat sie Anfang der 70er-Jahre aufgehört. Irgendwann wurden die Geburten im Dorf und in den umliegenden Gemeinden weniger. Immer mehr Frauen brachten ihre Kinder in der Klinik und nicht mehr zu Hause zur Welt.
Dazu kam ein Geburtenrückgang. Statt vom Demografiewandel sprach man damals allerdings noch von einer "nicht vorherzusehenden Änderung im generativen Verhalten der Bevölkerung". So ist es in einer Ausgabe der Hebammenzeitschrift aus dem Jahr 1970 nachzulesen. "Keiner konnte mehr planen", erinnert sich Emma. Also hat sie erst stundenweise und später fest angestellt beim Kugelfischer gearbeitet. Die Maschinenarbeit, sagt sie, die hat sie anfangs traurig gemacht. Aber am Ende des Monats habe der Gehaltszettel gestimmt - auch darauf kam es in einer Großfamilie mit drei Kindern, eigenem Haus und Auto an.


Familiengeschichten

Ob die 90-Jährige wieder Hebamme werden würde? In der heutigen Zeit, wohl eher weniger: "Die Machart ist noch das selbe, die Technik ist ganz anders." Ob sie es jemals bereut hat, mit drei Kindern die Hebammenschule zu besuchen und 15 Jahre lang Tag und Nacht für die werdenden Familien im Ort da zu sein? Nein. Es war wohl schon ihr persönlicher Traumberuf, den sie über Umwege erlernen und dadurch viele Familiengeschichten im Landkreis mitschreiben durfte.