Die erste Liebe und ihre erschütternden Abgründe
Autor: Oliver Pfohlmann
Bamberg, Donnerstag, 18. Juli 2019
Ort und Zeit: Spielen sie für Beziehungen überhaupt noch eine Rolle? Wer wirklich liebt, wird diese Frage als töricht zurückweisen. Wie Paul, der sich im Alter von 19 in eine 48-jährige verheiratete F...
Ort und Zeit: Spielen sie für Beziehungen überhaupt noch eine Rolle? Wer wirklich liebt, wird diese Frage als töricht zurückweisen. Wie Paul, der sich im Alter von 19 in eine 48-jährige verheiratete Frau verliebt. Und der sich dabei natürlich prompt "der alten, anhaltenden, unausrottbaren Illusion" hingibt, "dass Liebende irgendwie außerhalb der Zeit stehen." Davon erzählt der englische Autor Julian Barnes in seinem neuem Roman "Die einzige Geschichte".
Erst im Rückblick, etwa fünf Jahrzehnte später, wird Paul erkennen, wie sehr auch in seinem Fall die gesellschaftlichen Umstände mitbestimmend waren. Bei denen handelt es sich um ein für Barnes-Leser wohlvertrautes Gefilde. Es ist das verklemmt-neurotische England der frühen Sechziger.
Ein Mittelschichts-Ort nahe London, wo unter der Woche allmorgendlich die Anzugträger mit den Pendlerbussen in die City gondeln. Und sich ihre Gattinnen dann irgendwie die Zeit vertreiben müssen, zum Beispiel auf dem Tennisplatz. Dort, im Tennisclub, hätte Paul nach dem Willen seiner Mutter eine nette, heiratsfähige Christine oder Virginia kennenlernen sollen. Dass es dann mit Susan Macleod eine Mutter von zwei fast erwachsenen Töchtern wird, bereitet dem jungen Mann erhebliche Genugtuung.
Schließlich ist er wild entschlossen, einem anderen Lebensmodell zu folgen als seine Eltern, die für ihn das Musterbeispiel für "Muldenhocker" sind. So nennt Paul all jene Erwachsenen, die sich in ihrem Leben eine weiche Mulde gesucht haben, "Ehe" genannt, aus der es kein Entkommen mehr gibt. "Was auch geschehen mochte, ich wollte kein Muldenhocker werden."
Was der junge Mann stattdessen wird, ist Susans "Tennispartner" und "Fahrer". Natürlich durchschaut ihre Umwelt die Fassade der beiden schnell. Vom Tennisclub werden sie bald schon ausgeschlossen; Pauls Eltern flüchten sich dagegen in ein "englisches Schweigen". Und Susans Ehemann Gordon? "Mister Elefantenbuxe", wie seine Frau ihn verspottet, bleibt nichts anderes übrig, als den neuen Hausfreund seiner Frau zähneknirschend zu tolerieren, sich in Alkohol zu flüchten und wie besessen Kreuzworträtsel zu lösen.
Eine Tätigkeit, in der Barnes’ Protagonist nur den hilflosen Versuch eines weiteren Muldenhockers erkennt, das Chaos der Welt auf ein kleines verständliches Raster von Schwarz-Weiß-Quadraten zu reduzieren.
Obsessive Beschäftigung
Pauls verächtliche Reflexionen über die Philosophie des Kreuzworträtsels sind ein großartiges Beispiel für die Barnes-typische Mischung aus erhellendem Detail und literarischem Essayismus, amalgamiert in einer wie stets leichtfüßig-geschliffenen Prosa.