Die bunte Warenwelt des Westens
Autor: Matthias Einwag
Lichtenfels, Donnerstag, 17. Oktober 2019
Durch die Öffnung der innerdeutschen Grenze 1989 kam es zu wirtschaftlichen Veränderungen, die in der Region am Obermain bis heute deutliche Spuren hinterließen. Was hat sich durch den Mauerfall dauerhaft verändert?
Der Fall der Mauer kam überraschend. Kaum jemand hat wohl Ende der 80er vorhersehen können, mit welcher Dynamik sich der Wandel vollziehen würde. Entsprechend schnell mussten politisch die Weichen gestellt werden. Es galt beispielsweise, die Verkehrsinfrastruktur völlig neu zu konzipieren. Auf wirtschaftlichem Sektor reagierten die Unternehmen am Obermain auf die neuen Absatzmärkte vor ihrer Haustür. Sie stellten sich darauf ein, dass viele Kunden aus Thüringen und Sachsen kamen - und sie konnten Arbeitskräfte einstellen, die aus den neuen Bundesländern zuzogen.
"Es war in der Tat so, dass man die Grenzöffnung nutzte und in die Akquise gegangen ist", sagt Prokurist Dieter Uschold, der seit 1994 bei Baur in Burgkunstadt in leitender Funktion tätig ist. Ende der 80er und Anfang der 90er gab es kein Internet, das Geschäft beim Baur-Versand lief hauptsächlich über Bestellkarten, das Telefon hatte noch eine untergeordnete Bedeutung, erinnert er sich. Kunden aus den neuen Bundesländern strömten herbei, denn sie wollten im Westen all die Waren kaufen, die sie zuvor nicht bekommen hatten.
Die 1976 eröffnete Baur-Kaufwelt war besonders beliebt. Die Menschen aus der DDR kamen mit Reisebussen. Dieter Uschold: "Wir hatten einen Bereich Außendienst, der von Burgkunstadt aus betreut wurde. Nach der Grenzöffnung dehnten wir ihn auf den Osten aus. Dieser Außendienst organisierte die Busfahrten nach Altenkunstadt zur Kaufwelt." Damals hatte die Kaufwelt nur Katalogware. Das hatte den Vorteil, dass die anreisenden Kunden die Ware schon vorab anschauen konnten. Der Baur-Slogan zu jener Zeit lautete: "Der Katalog zum Anfassen".
Sammelbesteller orderten die Waren
Heute bestellen die Kunden ihre Waren online übers Internet; dies revolutionierte die Branche. Vorher hatte Baur zahlreiche Sammelbesteller. Diese Leute betrieben selbst Akquise und bestellten Waren für die Menschen aus dem Bekanntenkreis und der Nachbarschaft. Einige arbeiteten so professionell, dass sie davon leben konnten. "Das war in den 80er Jahren noch sehr stark verbreitet", sagt Dieter Usc hold. Innerhalb dieser Sammelbesteller gab es die Gruppe der Familienbesteller, die Waren für ihre Angehörigen orderten. Dieses Sammel- und Einzelbestellersystem änderte sich in den vergangenen Jahren völlig: "Heute haben wir fast nur noch Einzelbesteller."
Facharbeiter für den Bau eingestellt
1989 kamen sehr viele Leute aus der DDR in den Westen. Darunter seien zahlreiche Facharbeiter gewesen, sagt Wolfgang Schubert-Raab aus Ebensfeld. Der Diplom-Ingenieur und Bauunternehmer kann sich gut an die Zeit der Wende erinnern. In der Staffelsteiner Adam-Riese-Halle war eine Notunterkunft eingerichtet, in der die DDR-Bürger aufgenommen wurden. Zusammen mit seinem Schwiegervater sei er zur Halle gefahren: "Ich bot den geeigneten Leuten an, in unseren Betrieb zu kommen." Die Raab-Baugesellschaft habe in der Folge des Mauerfalls zunächst davon profitiert, dass Menschen aus der DDR und später aus den neuen Bundesländern im Westen Arbeit suchten. Bis zu 35 Mitarbeiter aus Ostdeutschland habe die Firma Anfang der 1990er Jahre beschäftigt - vom Maurer über den Betonbauer bis zum Kranfahrer. "Noch heute sind Mitarbeiter bei uns beschäftigt, die damals gekommen sind." Die ersten Asphaltierungsaufträge aus der DDR erhielt das Ebensfelder Unternehmen bereits 1989. Abgerechnet wurde in DDR-Mark.
Ernüchterung kam nach wenigen Jahren
Die Ernüchterung trat einige Jahre später ein, sagt Schubert-Raab, der zudem Präsident des Landesverbands der Bayerischen Bauinnungen ist. "Die ersten zwei, drei Jahre waren wir viel im Thüringer Raum tätig." Bis etwa 1995 habe die Ebensfelder Firma dort Straßen und Brücken in kommunalem und staatlichem Auftrag gebaut. Danach sei es für Westfirmen schwierig geworden, in Thüringen und Sachsen Aufträge zu bekommen, weil sie mit den Preisen der dort ansässigen Firmen nicht mithalten konnten: "Bis heute machen uns thüringische und sächsische Kollegen gehörige Konkurrenz, weil sie 30 Prozent weniger Tariflohn zahlen."
Bevölkerungszuwachs in den 80ern
Wilhelm Wasikowski, der Vizepräsident der IHK für Oberfranken-Bayreuth und Vorsitzende des IHK-Gremiums Lichtenfels, erinnert sich an diese Zeit sehr gut: "In den 1980er Jahren war Oberfranken zweigeteilt, der Westen Oberfrankens - mit Lichtenfels - entwickelte sich spürbar besser als der Osten. Unter den 20 Kommunen mit dem höchsten Bevölkerungszuwachs zwischen den Volkszählungen 1970 und 1987 in Oberfranken waren mit Lichtenfels, Michelau, Weismain, Altenkunstadt und Staffelstein auch fünf Kommunen aus dem Landkreis Lichtenfels."