Druckartikel: "Der Welt abhanden"

"Der Welt abhanden"


Autor: Markus Häggberg

Lichtenfels, Sonntag, 15. November 2015

von unserem Mitarbeiter  Markus Häggberg Lichtenfels — Fast scheint es, als blicke Leo Perutz mit Grimm auf die unter ihm lesenden Schüler. Oder mit Bitternis? Unter seinem auf Lei...
Katrin Neckermann beim Lesen eines Perutz-Textes. Foto: M. Häggberg


von unserem Mitarbeiter  Markus Häggberg

Lichtenfels — Fast scheint es, als blicke Leo Perutz mit Grimm auf die unter ihm lesenden Schüler. Oder mit Bitternis? Unter seinem auf Leinwand geworfenen Blick erinnert man sich an ihn, über ihm ist nur die Decke der ehemaligen Synagoge. Der Leseabend war ein stimmungsvoller, wenngleich auch ein etwas einsamer.
Kaum Publikum da, Schülereltern auch kaum. Das, was die P-Seminaristen im Fach Deutsch der Q-12 des Meranier-Gymnasiums (MGL) am Freitagabend mit kleinen Lesungen offiziell zu Ende brachten, sei schon vorher ordentlich bemerkt worden. Die das versichert, ist Stadtarchivarin Christine Wittenbauer, und sie spricht von Schulklassen und vielen Einzelbesuchern, die sich seit Ausstellungseröffnung vor einigen Tagen unter der Woche zum Schauen eingefunden hätten. Dann dürften ihnen die Lebensdaten auf dem Fußboden nicht entgangen sein, die, wie Seminarleiter Karlheinz Hößel anmerkt, die Idee der in vielen Städten in den Boden eingelassenen "Stolpersteine" zum Gedenken an jüdische Mitbürger aufgreift. Die Lebensdaten, Wendepunkte und Romaneinfälle des in Vergessenheit geratenen Schriftstellers Perutz finden sich aber auch in Zeitleisten, in Rätselfragen, in Zitaten und Anspielungen aller Art, am Ende zu einer Ausstellung gefügt.
Alle Exponate wurden - P steht für Praxis - von den Schülern des Deutschseminars zusammengetragen, oder zumindest haben sie ihre Beschaffung delegiert. Freilich galt es auch zu lesen, sich mit Werk und Wirken Perutz' vertraut zu machen und, ganz besonders an diesem Abend, Leseappetit auf einen Vergessenen zu wecken. Passagen, die ihnen wichtig waren, trugen vier Schüler vor, zudem gaben sie eine kurze Einführung in das jeweilige Werk und die Umstände, unter denen es geschaffen wurde.
Zu den Annehmlichkeiten des Abends zählten auch jiddische Lieder. Die beiden Lehrer Michael Ebert (Klavier) und Hubert Gehrlich (Gitarre) tauchten ins jüdische Milieus vergangener Jahrhunderte ein. Eine, die zu den Leserinnen zählte, war Annika Weiß. Der Schriftsteller, dem sie sich über eine Kurzgeschichte näherte, so sagt sie, bedeute ihr jetzt etwas. "Etwas zäh" zum Lesen habe sie ihn zunächst empfunden, später aber seien ihr Gemeinsamkeiten zwischen den Geschichten aufgefallen. "Das Ende wird von Anfang an aufgezeigt - aber nur augenscheinlich", glaubt die Schülerin erkannt zu haben. Und ja, sie sei "stolz" auf das Gelingen der Ausstellung. Eben darum hätte der Abend ein paar Gäste mehr verdient gehabt. Aber wie sagte schon Perutz: "Ich bin der Welt abhanden gekommen."