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Der Tag, als die Lastwagen anrollten


Autor: Rainer Lutz

Coburg, Freitag, 28. Januar 2022

Grenzgeschichte  Das Zweiländermuseum in Streufdorf erinnert an die Zwangsumsiedlung von Tausenden von Familien in der DDR. Manche trieb das zu der schrecklichsten Tat ...
Die Ortschaft Liebau, deren Bewohner 1952 fast alle in den Westen flüchteten, kurz bevor die Lkw zu ihrer Umsiedlung anrollten. Ihr Heimatdorf wurde später geschleift.


Der 5. Juni 1952 war ein schöner Sommertag kurz nach Pfingsten. Daran erinnert sich Christa Schleevoigt (geborene Walther) gut. Sie war damals Schülerin der Oberschule in Sonneberg. Um 6 Uhr wollte sie sich dorthin auf den Weg machen. Doch ihre Eltern sagten: "Du musst heute nicht. Wir müssen weg." An diesem Tag wurde das Leben dieser Familie aus Heubisch ruiniert. Sie war Teil der "Aktion Ungeziefer", der Zwangsumsiedlung von Menschen, die nahe der Demarkationslinie zur amerikanisch oder britisch besetzten Zone lebten. Menschen, die im Ruf standen, nicht zuverlässig hinter der Politik der Regierung zu stehen.

Am 6. Juni musste die Familie Walther, Eltern und zwei Töchter, ihr Leben ganz neu aufbauen - in einer Baracke bei Jena-Lobeda, in der zuvor Kriegsgefangene gelebt hatten. Christa Schleevoigt schrieb ihre Erinnerungen nieder. Sie sind als Weblink auf der Wikipedia-Seite zur "Aktion Ungeziefer" zu finden. Dass Walthers 24 Stunden Zeit bekommen hatten, ihr Anwesen mit Gastwirtschaft in Heubisch zu verlassen, war mehr, als anderen Betroffenen zugestanden wurde. In Streufdorf sollten Familien in zwei Stunden gepackt haben.

Dort allerdings regte sich Widerstand. Wie die Bürger im Ort den Tag erlebten und sich in großer Mehrheit hinter ihre Nachbarn stellten, die abtransportiert werden sollten, für sie kämpften und dafür selbst teilweise im Zuchthaus landeten, das dokumentiert das Zweiländermuseum in Streufdorf. Dort liegt eine von Andrea Herz gestaltete Broschüre aus. Unter dem Titel "Sperrgebiet und die Barrikaden von Streufdorf" wird die Geschichte von Widerstand und Solidarität erzählt, die sich vor 70 Jahren in dem Ort ereignete. Was unter dem Namen "Aktion Grenze" begann, bekam seinen menschenverachtenden Namen nach der Broschüre offenbar durch eine handschriftliche Notiz des Thüringer Landesinnenministers Willy Gebhardt an den Zweiten Landessekretär Otto Funke, in der er die umzusiedelnden Menschen als "Ungeziefer" bezeichnete.

Widerstand der Bürger

Als Volkspolizisten in den Ort kamen, um die Anweisungen der Regierung umzusetzen und ihre Mitbürger zu deportieren, stellten sich ihnen die Streufdorfer entschlossen entgegen. Das NS-Regime lag gerade sieben Jahre in Trümmern, als staatliche Willkür schon wieder möglich war auf deutschem Boden. Der Widerstand wurde gewaltsam gebrochen. Nirgends entlang der Grenze von der Ostseeküste bis an das tschechische Staatsgebiet gelang es, die Umsiedlungen zu verhindern.

In einigen Fällen aber kamen die Volkspolizisten zu spät. So etwa in Billmuthausen. Sieben Familien, 34 Menschen, hatten dort ebenfalls ihre Heimat aufgegeben. Doch sie entschieden selbst, wo ihr Leben weitergehen sollte - in der Bundesrepublik. Dorthin hatten sie sich abgesetzt, als auch sie umgesiedelt werden sollten. Ein besserer Start in ein neues Leben.

Lieber tot als umgesiedelt

Andere entgingen dem Zugriff der Volkspolizisten, indem sie sich das Leben nahmen. Allein in Thüringen wählten nach Stasi-Unterlagen sieben Menschen diesen Weg. Im Sonneberger Land war es eine vierköpfige Familie, die lieber in den Tod ging, als die Schmach der Umsiedlung zu ertragen.

Die Umgesiedelten in der DDR bekamen keine neue Bleibe, die auch nur annähernd ihrem früheren Besitz entsprochen hätte. Am neuen Wohnort wurde den Mitbürgern erklärt, es handle sich bei den "Neuen" um Verbrecher. So sollten neue soziale Kontakte erschwert werden. Nach Historikern sollen etwa 3000 Menschen sich durch Flucht der Umsiedlung entzogen haben. Zwischen 11 000 und 12 000 wurden nach Schätzungen bei der Aktion "Ungeziefer" 1952 und der Aktion "Kornblume" 1961 zwangsumgesiedelt.

Der Besuch im Zweiländermuseum macht ebenso wie die Broschüre neugierig. Das Museum selbst regt an zu einer Spurensuche. In Zusammenarbeit mit der Initiative Rodachtal, in der Kommunen aus Franken und Thüringen grenzübergreifend seit über 20 Jahren zusammenarbeiten, entstand ein Flyer, der zu den zwölf Außenstationen des Museums führt. An besonderen Orten, etwa der Gedenkstätte für den geschleiften Ort Billmuthausen oder dem Grenzturm-Museum an der ehemaligen Grenzübergangsstelle zwischen dem fränkischen Rottenbach und dem thüringischen Eisfeld, warten Informationen auf geschichtsinteressierte Besucher. "Das Grüne Band, das aus dem ehemaligen Todesstreifen geworden ist, ist etwas womit wir wuchern können", sagt Streufdorfs Bürgermeister Tino Kempf. Bei der touristischen Vermarktung arbeitet er eng mit Bad Rodachs Bürgermeister Tobias Ehrlicher zusammen. Die 10 000 Flyer, die Ahorns Bürgermeister Martin Finzel als Vorsitzender der Initiative Rodachtal jetzt an Katrin Schlefke vom Förderverein des Zweiländermuseums überreichte, sollen möglichst viele Gäste, die die Region besuchen, auf das Museum und seine Außenstationen aufmerksam machen.

Wenn Museumsleiterin Sybille Knopf am 3. März, nach der Winterpause wieder die Tür des Zweiländermuseums aufschließt, eröffnet dort eine Sonderausstellung unter dem Titel "Sperrgebiet und die Barrikaden von Streufdorf". Sie entspricht dem Ziel des Museums, die Erinnerung an den Umgang der Staatsmacht in der DDR mit ihren Bürgern wachzuhalten. Denn wie Martin Finzel als Vorsitzender der Initiative Rodachtal feststellte: "Selbst die Grenzöffnung, die nicht so weit zurückliegt, ist für viele heute schon nicht mehr greifbar."