Blaue Flecken, leere Blicke - was steckt dahinter?
Autor: Marian Hamacher
Kronach, Montag, 04. Januar 2016
Kronach ist keine Insel der Glückseligen - nicht immer sind Kinder in ihren Familien am besten aufgehoben. In elf Fällen musste das Kreisjugendamt die Reißleine ziehen. Doch soweit muss es nicht kommen. Daher suchen die Sozial- pädagogen die Zusammenarbeit mit den Eltern.
Jedes Wort aus der Nebenwohnung ist deutlich zu verstehen. Genau genommen jedes Schimpfwort. Dass eine Wand dazwischen liegt, macht keinen Unterschied. Ziel der Verbalattacken ist unüberhörbar die kleine Tochter der Nachbarn, die zudem seit einigen Tagen auffällige blaue Flecken an ihrem Arm zu verstecken versucht.
Zwei Anzeichen, die die inneren Alarmsirenen schrillen lassen sollten. "Noch gibt es - zum Glück - keine gläsernen Wände, doch dadurch sind wir auf Hinweise aus der Bevölkerung angewiesen", sagt Ulrike Gareis. Seit rund 20 Jahren ist sie stellvertretende Sachgebietsleiterin im Kronacher Kreisjugendamt - weshalb sie gleich mehrere solcher Beispiel-Szenarien kennt. "Wenn man beobachtet, dass in einer Familie, die man vielleicht auch nur aus der Distanz kennt, ein Kind geschlagen wird, verwahrlost ist oder um Essen bettelt, sollte man uns kontaktieren", rät Gareis.
Dass die Meldung unberechtigt ist, könne immer noch festgestellt werden. "Wir gehen konsequent jeder Meldung nach, weil es um die Sache geht."
Ein genaues Bild
"Kindeswohlgefährdung" nennt es das Jugendamt, wenn Eltern ihrer Erziehungs- oder Fürsorgepflicht nicht nachkommen. Sei es durch Vernachlässigung, körperlichen Zwang oder Gewalt. Bei 92 Kindern wurde im Jahr 2014 nach Angaben des bayerischen Landesamts für Statistik im Kreis Kronach eingeschätzt, ob und in welchem Maße eine Gefährdung vorliegt.Die Hinweise kommen dabei aus den verschiedensten Ecken. Sei es telefonisch, von der Polizei oder direkt vor Ort von besorgten Verwandten oder betroffenen Jugendlichen. "Geht eine Meldung ein, wird sie sofort qualitativ eingeschätzt", sagt Gareis. "Bei akuten Fällen lässt man quasi den Stift fallen und macht sich auf den Weg."
Liegt ein beobachteter Vorfall schon mehrere Wochen zurück, könne es auch sein, dass sich die Sonderpädagogen des sozialen Dienstes noch ergänzende Informationen bei Ärzten, Kindergärten oder Schulen einholen. "Der Standard ist aber, dass man sofort nachsieht", so Gareis.
Der Königsweg sei es immer, der Familie Hilfsangebote zu machen. "Kinder sind in ihren Familien grundsätzlich am besten aufgehoben, aber manchmal geht es einfach nicht anders", sagt die stellvertretende Sachgebietsleiterin. Eine schwierige Aufgabe für die Mitarbeiter, die ihre Entscheidung vertreten können müssen - in jede Richtung. Ein Kind zu Unrecht aus einer Familie zu nehmen, könne ebenso schwerwiegende Konsequenzen haben, wie es dort zu belassen und möglichen weiteren Gefahren auszusetzen.
Wird ein Kind geschlagen oder bedroht, liegt eine akute Gefährdung vor, die das Kreisjugendamt zum sofortigen Einschreiten zwingt. Es komme jedoch auf den Einzelfall an, ob ein Kind auch aus der Familie geholt wird. Manchmal reiche es schon, eine sozialpädagogische Hilfe an die Seite zu stellen.
In seltenen Ausnahmefällen - etwa bei überforderten Erziehungsberechtigten - sei es auch möglich, eine Kraft an die Seite zu stellen, die 24 Stunden am Tag zur Verfügung steht. Diese versucht zu vermitteln oder mögliche Ursachen für die Probleme zu beseitigen. Sei es, eine weitergehende Hilfe zu vermitteln, eine neue Wohnung oder einen Krippenplatz zu finden. "Es wird ausgelotet, ob die Chance besteht, das Kind in der Familie zu lassen", erklärt Gareis. Dabei komme es auch darauf an, welche Bereitschaft die Eltern zeigen.
Bei elf Kindern zog das Kronacher Kreisjugendamt 2014 nach genauer Begutachtung die Reißleine. Wird zunächst nicht zugestimmt, das Kind in einer Pflegefamilie unterzubringen, hat ein Familienrichter, der vor seinem Urteil noch einmal beide Seiten anhört, das letzte Wort. Keine Kindeswohlgefährdung, aber einen Hilfebedarf stellten die Sozialpädagogen bei Eltern von 34 Kindern mit.
Positive Folgen
Entsprechende Angebote des Kreisjugendamts gibt es gleich mehrere: etwa die Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Familien, die in Kronach in der Klosterstraße zu finden ist, oder die koordinierende Kinderschutzstelle (KoKi) für Eltern mit Kindern unter drei Jahren. Dort werden Hilfe bei Erziehungsfragen gegeben, Ansprechpartner gesucht oder Kontakte zu Behörden vermittelt.
Offenbar haben die Hilfsangebote positive Folgen: Als die Kinderschutzstelle 2010 gegründet wurde, lag die Zahl der gemeldeten Fälle bei 79 - deutlich über dem Schnitt (65). In den vergangenen Jahren sanken die Meldungen jedoch kontinuierlich (2011: 64, 2012: 60, 2013: 45, 2014: 49, 2015: 40). Anders als das statistische Bundesamt, das die Meldungen des vergangenen Jahres noch nicht ausgewertet hat, zählt das Kronacher Kreisjugendamt nicht die betroffenen Kinder, sondern die Familien, für die Meldungen eingehen. "Es besteht zwar kein wissenschaftlicher Zusammenhang, aber man kann der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass Angebote wie die KoKi oder der Erziehungs- und Familienberatung mit den sinkenden Zahlen zu tun haben", sagt Ulrike Gareis. Jedes der unterstützenden Angebote sei eine potenzielle Entlastung und könne dazu beitragen, dass sich die Situation verbessert.
47 der 92 gemeldeten Kinder ließen die Kronacher Sonderpädagogen übrigens guten Gewissens bei ihren Familien, da sie keinen Handlungsbedarf sahen. "Das muss aber nicht immer die klassische Verleumdung sein", sagt Gareis. "Manchmal war es einfach nur ein kurzer Streit, der sich dann erledigt hat." Doch die inneren Alarmglocken sollen lieber einmal zu oft schrillen, als das eine Mal zu wenig.